Euklid-Eudoros-Eratosthenes | Die Studien des jungen Flavius Gracchus

  • Effektuiert durch jene überaus ennuyante Immatrikulationsprozedur, infolgewelcher Manius Minor zum Ehrenbürger jener wohl größten Polis der Oikumene war erkoren worden, genoss dieser nunmehr das Privileg, sich den Studien am Museion zu widmen, wo das gesamte Wissen des Orbis Terrarum similär dem Schatze des König Midas wurde gehortet, ebenso indessen den eifrigen Akroaten, zu denen der junge Flavius nunmehr sich durfte zählen, in Lektionen und Disputationen gelehrt.


    Obschon somit einem schier inexhaustiblen Maß an Offerten und Alternativen, seine bisherig eher superfiziellen, wenn auch jenen Maßstäben der Enkyklia Paideia nicht unverwandten Studien zu intensivieren, konfrontiert, verspürte der Jüngling doch eine eher geringe Neigung, sich mit Verve in die Wissenschaften zu vertiefen, was indessen weniger juvenilem Desinteresse sämtlichen Gütern der Bildung, ebensowenig jenem pragmatischen Anspruch jedeweden Rhomäers an die Wissenschaften, der lediglich das Nützliche als erstrebenswert zu deklarieren pflegte, oder gar einer schlichtweg intellektuellen Inkapazität war geschuldet, sondern vielmehr ihren Ursprung in der tiefen Melancholie des jungen Flavius, der doch so fern von der Heimat weilte, amputiert von seinen Lieben und diesmalig auch nicht durch die Freundschaft eines paternellen Mentoren getröstet, der mit Anekdoten militärischer Husarenstücke oder altkluger Aphorismen ihn von seinem Leiden zu entfremden imstande war. Daher pflegte er, wie er auch seinem Vater recht baldig nach seiner Ankunft schrieb, einen überaus eklektischen Konsum des museialen Angebotes, was nicht zuletzt dem zu attribuieren war, dass er erst am späten Vormittag, wenn Morpheus ihn endgültig aus seinem Reiche exkludierte, den Campus aufsuchte, um sodann seinen Träumen nachhängend in der Schar der Studenten zu versinken, während lediglich Patrokolos eifrig die Worte der Philologen und Philosophen protokollierte, um zumindest in einer Art privatem Repetitorium in den grünen Höfen zur Mittagszeit seinem Herrn einige zentrale Aspekte zu aktivieren.
    Schließlich war jene Introversion in Konnektion mit der mehr denn augenscheinlichen Verträumtheit und einem gewissen Ungeschick, welches dessenungeachtet mehr seiner Hypermetropie denn Gedankenlosigkeit war geschuldet, kaum geeignet, das Interesse seiner Kommilitonen an dem untersetzten Rhomäer zu erwecken, sodass seine Tage auch durch Freunde oder selbst gemäßigte soziale Kontakte wurden erhellt.

  • "Welch faszinierender Gedanke, Domine!"
    , verlautbarte der sichtlich verblüffte Patrokolos, als er an der Seite seines Herrn aus der Stoa, wo beide soeben den Lektionen eines Philologen über die Erkenntnisse des Eratosthenes bezüglich der Kritik tradierter Texteditionen hatten gelauscht, ins Freie trat, um sich im satten Grün des wohlgepflegten Rasens niederzulassen und zu pausieren.
    "Durchaus, durchaus! Niemals hätte ich vermutet, welche Insekuritäten die Tradition großer Autoren begleiten!"
    "Nun, das drängt sich mit einem solchen Schatz an Texten und Editionen vermutlich auf!"
    Er blickte hinauf zu dem imposanten Bibliotheksbau, in dessen Schatten die beiden nunmehr ihrer Gewohnheit gemäß campierten, sodass Manius Minor seinen Gedanken konnte nachhängen, während der Diener seine Notizen rekapitulierte, obschon der Jüngling diesmalig keineswegs sich in Träumereien verlustierte, sondern vielmehr noch immer gebannt von dem soeben Erlernten sich verwunderte, dass niemals er hatte erwogen, dass die literarischen Pretiosen in der flavischen Bibliothek womöglich keine authentischen Werke, sondern durch Nachlässigkeiten von Kopisten und Traditoren verfälschte Abschriften repräsentierten.
    "Womöglich sollten wir die Bestände der Bibliotheca Flavia korrigieren, wenn sich nun bereits die Okkasion bietet."
    Sogleich präsentierten sich vor dem Auge seiner Imagination zahllose Texte, welchen seit frühester Kindheit er mit gesonderter Passion hatte gelauscht, den Mären vom listenreichen Ulixes ebenso wie die Komödien des Menander.
    "Doch wo sollte man beginnen? Dein Vater müsste uns die Texte zur Überprüfung zusenden, wir müssten sie jeweilig separat kontrollieren! Welch eine Herkulesaufgabe!"
    "Ob auch an der römischen Literatur Textkritik zu üben wäre?"
    "Warum nicht? Wenn Aristophanes, der hunderte Jahre in der Vergangenheit lebte, unsicher ist, warum sollte es sich bei Ennius anders verhalten?"
    Im Geiste begann der junge Flavius bereits, die Bibliothek zu durchforsten, dabei gleich mehrere Bibliothekare zu okkupieren, um sämtliche Editionen eines speziellen Werkes herbeizuschaffen, die sodann zu vergleichen waren. Zweifelsohne würde manche Inklarität des Textes, manch verwunderlicher Bruch zu glätten, womöglich gar aus den uralten Rollen des flavischen Bücherschatzes ein gänzlich unbekannter Autor zu destillieren sein, der womöglich gar dem flavischen Geschlechte anhing und seiner Gens neben politischem auch literarischen Ruhm würde vermachen!
    Inmitten jener Träumereien wurde ihm jedoch mit einem Male gewahr, dass eine derartige Arbeit seinerseits lediglich durch Aufsicht und das Lauschen auf die Propositionen seiner Diener würde zu bereichern sein, da er mit eigenem Auge doch keinen der Texte zu lesen imstande war, was gerade bei einer intensiven Konfrontation mehrerer nahezu identer Editionen ein unüberwindliches Hindernis mochte darstellen. Die Perspektive indessen, in mühseliger Detailliertheit Texte miteinander zu konfrontieren, erschien dem jungen Flavius nach einigem Reflektieren doch nicht mehr allzu delektabel, zumal bereits einiger Aufwand würde zu betreiben sein, um zu ermessen, welche Opera der flavischen Bibliothek einer solchen Revision bedurften.
    Womöglich würde es doch suffizieren, die authentische Kopie eines Klassikers als Präsent in die Heimat zu senden, sodass seine Anverwandten in jener reduzierten Weise von seinen Studien in Rom mochten prophitieren.
    "Wir sollten in der Bibliothek recherchieren, welche lateinischen Klassiker sie führt!"
    , offerierte Manius Minor somit endlich eine praktikable Perspektive, obschon ihm wohlbewusst war, dass insonderheit sein Vater der hellenischen Literatur nicht minder abhold war denn der römischen. Er war freilich auch nicht das primäre Objekt, welches zu delektieren er gedachte.
    "Ich fürchte, ihre Zahl wird größer sein, als wir jemals auch nur sichten werden können."
    Aufs Neue blickte Patrokolos zu dem aufragenden Bauwerk, diesmal indessen mit kritischer Miene. Versonnen nickte der junge Flavius.
    "Womöglich vermag einer der Bibliothekare uns ein lohnendes, weniger populäres Werk lateinischer Prosa zu rekommendieren."
    Jene Reduktion der ehrwürdigen Stätte der Gelehrsamkeit zu einem Laden delektabler Literatur verblieb als dürftiges Fazit der imposanten Einsichten, welche der Philologe dem jungen Flavius und seinem Diener hatte gewährt. Was den beiden Studenten verblieb, war letztlich ein akkurates Duplikat der wohl ältesten Abschrift der Tragödie 'Equos Troianos' des Livius Andronicus, welcher zumindest als der Schöpfer der lateinischen Dichtung doch ein akzeptables Souvenir ihrer sprachwissenschaftlichen Einlassungen repräsentierte.

  • Voller Interesse folgte der junge Flavius den Lehren des Aristobulos von Tyrus und stets war er erstaunt, welche dem gewöhnlichen Dafürhalten bisweilen geradewegs konträren Einsichten jener ihnen Tag für Tag offerierte. Als der Jüngling nach einer jener Lektionen soeben gedachte, sich gemeinsam mit Patrokolos von der Stelle zu begeben, wandte ein weiterer Akroat sich zu ihnen und neigte sein Haupt zu dem jungen Flavius, was selbstredend diesem die Interpretation der Mimik zur Gänze impossibilisierte. Indessen bedurfte der Schalk, welcher aus der Stimme der Hellenen sprach kaum der Interpretation, als dieser sprach:
    "Wir feiern den Geburtstag Epikurs im Haus des Dionysios. Du bist herzlich willkommen! Bringe deinen Lieblingswein mit und komme nicht nach der neunten Stunde, zwei Blocks hinter dem Museion!"
    Voller Irritation ob der inprävisiblen Invitation vermochte Manius Minor nicht eine eilige Replik zu formulieren, obschon er zwar jenes Jünglings, welcher stets mit großem Vergnügen und bisweilen mehr oder minder humoristischen Kommentaren, stets flankiert von verhaltenem Lachen seiner Kommilitonen der Lektion war gefolgt, ihn jedoch niemals eines guten Wortes, eines vertrauten Blickes oder auch nur eines artigen Grußes hatte gewürdigt. Jene Okkasion verstrich indessen in atemberaubender Velozität, da jener Invitator sogleich sich wieder ab- und seinen Gefährten zuwandte, um mit jenen fröhlich schwatzend der Stoa den Rücken zu kehren.


    Dort verblieb inmitten der scheidenden Studenten ein gänzlich konfundierter Manius Minor, welcher unter den zahllosen Gastmählern in seiner Vaterstadt niemals eine derartig informale Einladung hatte erhalten, insonderheit eine solche mit der mirakulösen Annotation der eigenen Mitnahme kulinarischer Spezialitäten.
    "Was mag dies bedeuten?
    , adressierte er somit Patrokolos, welcher als sein Auge nicht lediglich die physisch-visuelle, sondern ebenso die soziale und psychische Welt für ihn aufzuschließen pflegte, da jener doch in Komparation zu diesem die reale, bisweilen brutale, bisweilen jedoch auch erfrischend simple Welt weitaus weniger alien war, nachdem das Leben eines Leibsklaven des flavischen Besitzes sich nicht allein auf die wohlbehüteten vier Wände aristokratischer Haushalte zu beschränken pflegte, sondern er regulär sich allein oder mit weiteren Bediensteten in der Urbs und anderswo hatte verlustieren und damit die Wunder des gemeinen Lebens hatte entdecken dürfen. Auch hier vermochte er somit einen kalmierenden Ton anzuschlagen und schlichtweg zu erklären:
    "Das weiß ich auch nicht, Domine. Ich vermute aber, es ist eine Feier für Studenten im privaten Rahmen. Ich würde dir empfehlen, es einfach zu versuchen."
    Eine empirische Ergründung jenes Mysteriums erschien dem jungen Flavius reichlich riskant, da doch manches konnte geschehen, saß er bei dessen Interpretation einem Irrtum auf. So mochte er sein Gesicht verlieren, wenn man ihn zum Narren hielt und er...
    Doch was mochte bei Lichte besehen überhaupt geschehen? In Ermangelung einer Vertrautheit mit plumpen Scherzen, bei welchen dickliche Knaben durch übermütige Altersgenossen hinters Licht geführt zu werden pflegten, die freilich in dem eher menschenscheuen Lebensstil des jungen Flavius niemalig einen Platz hatten gefunden, verblieb beim Spintisieren des Jünglings letztlich lediglich die Gefahr eines Irrtums, welcher hingegen an der Pforte jenes Hauses des Dionysios zweifelsohne leichtlich war zu klarifizieren und ohne sich nur im Geringsten in Verlegenheit zu bringen zu lösen war, da er schlicht seinen Diener konnte vorschützen, ohne selbst in Erscheinung zu treten genötigt zu sein.
    "Nun, auf einen Versuch mag es ankommen."
    , sprach er somit versonnen, eine amüsierte Bemerkung seines Sklaven evozierend:
    "Domine, der spiritus loci scheint bereits zu wirken. Du wirst noch zum Empiriker werden!"
    Der Jüngling spiegelte die ihm verborgenen Regungen der facialen Muskeln seines Compagnon und mit einem Lächeln auf den Lippen verließ er endlich die Stoa, beseelt von dem aufwühlenden Gedanken, erstmalig seit wohl einer halben Dekade die Initiative beim Schluss von Bekanntschaften zu ergreifen. Sofern man die Akzeptanz einer Invitation zu einer ihm gänzlich unbekannten Gesellschaft derartig mochte definieren.

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