Aufbruch aus Myra

  • Es war ein noch junger Morgen. Das Meer schwabte in trägen Wogen an Land mit nur wenig Meerschaum, während die Bewohner Myras noch zum größten Teil schliefen. Der Himmel war schon hell und völlig klar, doch war die Sonne noch nicht aufgegangen. Die Möwen jedoch waren schon erwacht und sangen ihre Lieder, während sie hoch über einen einzelnen Mann kreisten, der dort ganz alleine am Strand verharrte, gleich einer Salzsäule, und hinaus aufs Meer starrte, tief in Gedanken versunken. So vieles war in den letzten Jahren geschehen, so vieles, das in seinem geistigen Inneren vor sich ging und seinen Geist beschäftigte, während der eine, oder andere Gedanke auch an die Zukunft gerichtet war.
    Viele Stunden stand der Mann so da und ließ sich seine Füße von der salzigen Flut umspülen, völlig in seinen Geist versunken und mit sich selbst Zwisprache haltend. Es waren nur einfache Gewänder, die der Mann trug. Auf den ersten Blick mochte man ihn vielleicht sogar für einen Mittellosen, oder gar einen Bettler halten, doch sprach dagegen sein restliches gepflegtes Äußeres. Sein mittellanger Bart war gepflegt und seine Kleidung ordentlich und sauber,was verriet, dass es dem Mann doch nicht so schlecht gehen konnte. Während seiner Zeit am Strand war der Lauf der Zeit unerbitterlich vorangeschritten, der selbst die Götter (und `vielleicht auch Gott?´ wie der Mann in Gedanken anmerkte, wenn auch mit großer Unsicherheit ob dieses frevlerischen Gedankens) Untertan sein mussten und die ersten sattgelben Sonnenstrahlen der jetzt wirklich aufgehenden Himmelsscheibe den Himmel golden färbte und auch der kleine Ort Myra langsam im Rücken des Mannes erwachte. Erste Hahnenschreie waren zu hören und das Gezwitscher der anderen Vögel gesellte sich schon bald zu den Rufen der Seemöwen, während der Mann immer noch am Gestade des Weltennasses verharrte und versuchte, sich zu einer Entscheidung durchzuringen.


    Wieso sollte er diesen Schritt machen, wo er doch auch hier genauso suchen konnte? Wieso in die Fremde ziehen, wenn auch hier die Botschaft noch zur Genüge verbreitet werden konnte? Was hatte er davon und was die noch wichtigere Frage war, war es auch richtig und "gewollt"? Doch wieder hatte sich ein Fehler in sein Denken eingeschlichen, weshalb der Mann gezwungen war erneut seine Motivationen zu jener Sache zu ergründen. Die Frage danach, was er davon hätte, sollte er es tun, war falsch gewesen. Völlig falsch sogar. Dieser Punkt sollte der letzte sein, an dem man denken sollte, wenn nicht sogar völlig außer Acht gelassen werden. Er rief nichts anderes als Egoismus hervor und egoistische Gedanken waren falsch. Sie führten einen ab vom rechten Weg, direkt auf die Pfade von Verführung, Versuchung und Sünde. Nein, solange er konnte, wollte der Mann diese Abzweigung meiden. Noch immer war es nicht leicht sich völlig vom Gedanken an sich selbst und die persönlichen Ansprüche zu lösen, doch war dies nötig, wenn man dem Beispiel des großen Lehrmeisters folgen wollte. Dieser hatte immerhin auch niemals an sich, sondern stets an seine Mitmenschen gedacht. Natürlich, es hatte Zeiten und Momente gegeben, wo auch "er" mit dem Schicksal und dem Plan des Vaters gehadert und gefleht hatte, das Ende möge anders kommen, doch dann, als es soweit war, war er ohne Angst und entgültigen Gewissens zum letzten Gang seines irdischen Seins geschritten und das größte Opfer wurd' vollbracht. Himmel und Erde waren an jenem fernen Tage in der Vergangenheit erbebt und zerbrochen und gleichzeitig wiederhergestellt worden. Von gleicher Art wie vorher und doch anders. Besser, reiner, geläutert.
    Was also sollte den Mann davon abhalten ebenfalls endlich seine Heimat zu verlassen, wo es doch nötig war, wenn er weiterkommen wollte? Es gab viele gute Gründe die dagegensprachen. Nicht nur abstrakt theologisch-philosophische, sondern auch ganz nüchterne Dinge waren darunter, wie die Liebe zu seiner Familie und seinen Freunden, die Vertrautheit seiner Heimat und schlicht das menschliche Bedürfnis an einem Platz zu weilen, wo man bekannt war mit seinen Mitmenschen und sich geborgen fühlte. Waren das so verwerfliche Hinderungsgründe? Kein Reichtum lockte den Mann, wenn auch seine Familie reich war und Gold, Besitz, oder Vermögen hielten ihn hier erst recht nicht. Doch genug andere Dinge hinderten den Mann, darunter als wenige Beispiele die zuvor schon genannten, sich entgültig zu einer Entscheidung durchzuringen. Niemand war zu ihm gekommen, hatte ihm am Ärmel gezogen und gesagt "Gehe fort und verbreite das Wort", niemand hatte ihm ins Ohr geflüstert "Gehe fort und hilf deinen Mitmenschen in ihrem Heil" und schon gar niemand hatte gemurmelt "Gehe fort und vergrößere dein Wissen" und doch verspürte der Mann ganz deutlich diesen Ruf nach der Fremde in sich. Es war einfach richtig, es war nötig, es war... der einzige Weg. Jede Faser seines Körpers und jede Windung seines Geistes sagte ihm das und der Mann hörte es. Wenn er auch nicht allzu glücklich damit war, denn er hatte in den letzten Wochen keine Ruhe mehr deswegen gefunden. Auch konnte er ja nicht fort, seine arme alte Mutter brauchte ihn doch an ihrer Seite! Krank und alt darb sie in ihrem goldenen Bett und wenn des Mannes Vater auch die besten Ärzte kommen hatte lassen, um das Leiden seiner Frau zu kurieren, so hatten sie alle am Ende den gleichen Befund gestellt; die Mutter des Mannes würde sterben.
    Ein Grund mehr in Myra zu bleiben, hieß es doch nicht, man solle Vater und Mutter ehren? Würde man dieses Gebot nicht aufs schändlichste verraten, würde man jetzt aufbrechen, um unter fremden Menschen zu wirken? Oder war dies nur eine Prüfung der Festigkeit seines Glaubens? So sehr der Mann es auch drehte und wendete, er wusste es einfach nicht. So viele Gründe die dafür sprachen fortzugehen und dem inneren Ruf zu folgen, doch ebenso viele, die ihm klar machten, dass es für alle wohl besser wäre, wenn er hierbliebe. Was also tun?


    Der Bauch des Mannes knurrte heftig, was ihn zum ersten Mal seit langem aus seinen Gedanken schreckten ließ. Er sah sich um und bemerkte, dass die Sonne inzwischen ganz aufgegangen war und der Himmel bereits von gold auf blau wechselte. In der Ferne konnte er einen winzigen Punkt am Horizont ausmachen, der langsam von Osten nach Westen sich bewegte. Ein Handelsschiff mit Kurs in den Westen, vermutlich eine Getreidelieferung aus Ägypten nach Ostia und dann weiter nach Rom, oder aber auch eine Warenladung aus eine phönizischen Küstenstadt auf den Weg nach Griechenland, oder wieder Rom? Der Mann wusste es nicht. Doch war er nun vollends in die Realität zurückgekehrt und auf das hier und jetzt konzentriert. Es hatte vorerst keinen Sinn, hier am Strand zu verweilen, er hatte in den vergangenen Stunden ja doch keine Lösung für sein Dilemma gefunden und so war es auch unnötig, länger zu hoffen, dies würde sich heute noch ändern. Auf ein, oder zwei weitere unentschlossene Tage (oder Wochen) würde es nicht weiter ankommen, hoffte er.
    So drehte sich Paulus um und ging langsam zurück nach Myra.

  • Der Schweiß stand in großen Perltropfen auf der heißen Haut der Mutter, während ihr Atem schwer ging und man ihr ansah, dass sie mühsam um jeden Atemzug kämpfte, um ihre schwachen Lungen damit zu füllen. Abgemagert bis aufs Gerippe und mit ihren eingefallenen Wangen war nicht mehr viel von ihrer einstigen Schönheit zu sehen, für die sie einst in jüngeren Tagen zuhause in Antiochia berühmt gewesen war. Paulus saß neben ihr an ihrem Bett und hielt mit traurigem, mitfühlendem Gesicht ihre Hand. Das spendete Trost. Für beide.


    Neben Paulus war auch dessen Vater anwesend, der mit vor Leid zerstörtem Gesicht hinter ihm stand und offensichtlich mit den Tränen zu kämpfen hatte. Der anwesende Iatros* hatte sich in eine Ecke des Raumes zurückgezogen, um der trauernden Familie ein wenig mehr Privatsphäre zu bereiten. Noch waren seine Dienste jedoch vonnöten. Auch Paulus' Schwester Sebastiana und seine drei Brüder waren anwesend. Heute war der Tag, an dem ihre geliebte Mutter sterben würde. Das war gewiss. Schon vor Stunden hatte der kommende Tod begonnen sich an ihr abzuzeichnen. Leicht zuerst, doch schnell immer stärker und stärker. Paulus' Mutter hatte die Augen geschlossen, denn sie konnte sie nicht mehr offen halten und auch das Sprechen war ihr entgangen, da die nötige Kraft dazu fehlte. Niemand konnte ihr mehr helfen, während diese arme Seele immer noch auf Erden war und mit den Kräften des Hades rang. Das war das Grausame daran. Selbst dem alten, hartgesottenen Iatros tat die Frau leid, die so sichtbar an den Qualen ihrer letzten Stunden auf dieser Erde litt, weshalb er nach einer Weile wieder vortrat und dem Vater erbot: "Soll ich ihr einen Trank verabreichen, der sie schlafen lässt, Kyrios?" Es würde der Frau bestimmt helfen und ihr den Übergang des Schattenreichs gewiss erleichtern, doch der Vater war dagegen. "Nein, tu das nicht." Wenn auch Leid das Gesicht des Vaters zeichnete, so war auch die Härte immer noch zu erkennen, die normalerweise in ihm wohnte. Deimostenes würde seiner Frau bei aller Trauer gewiss nicht ihre letzten Momente auf Erden nehmen, wenn sie auch schwer sein mochten. Plötzlich röchelte Paulus' Mutter stärker und sie begann am ganzen Körper zu zittern. Sie schlug weit ihre Augen auf, rasselte und röchelte schrecklich und dann fiel sie zurück auf ihre Kissen. Der Lebensglanz ihrer Augen war von ihr gewichen. Es war vorbei.
    Die meisten Anwesenden schlossen die Augen, Tränen sah man da und dort, während, der Iatros vortrat und Deimostenes' Frau untersuchte. "Sie ist tot" murmelte er seine Diagnose. Er schloss ihr die Augen und legte darauf zwei Münzen, als Bezahlung für den Fährmann, dann zog sich der Iatros vollends zurück. Sebastiana brach in unkontrolliertes Schluchzen aus, während einer von Paulus' Brüdern sie in die Arme nahm. Der Vater verließ den Raum, nachdem er noch eine Weile sein totes Eheweib betrachtet hatte und auch ein Bruder folgte ihm. Paulus währenddessen saß immer noch auf der Bettkante und hielt die Hand der Mutter, die noch immer warm war, wenn auch die Farbe jetzt langsam begann aus ihrem Gesicht zu weichen. Paulus hatte bisher noch keine Tränen vergossen und es würden wohl aller Vorraussicht nach keine mehr kommen. Er befand sich in einem lethargischen Zustand und fühlte sich so, als ob er neben sich stünde. Sebastiana wandte sich nun ebenfalls ab und schritt in Richtung Tür, zusammen mit dem Bruder, der sie in den Arm genommen hatte und kurz darauf ging auch der dritte Bruder. Jetzt war Paulus mit ihr alleine.
    Er betrachtete die Münzen auf ihren Augen, verharrte noch einen Moment und dann nahm er sie von ihr. Paulus dachte an Jesus Christus und legte eine Hand auf die rechte Schulter der Mutter. "Mögest du in Frieden ruhen im Schoße unseres Herrn Jesus Christus, im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen." Dann nahm Paulus seine Hand wieder von ihr und wandte sich ab. Seine Mutter war niemals Christin gewesen, doch konnte er einfach nicht mitansehen, wie man sie für eine Fahrt in die heidnische Unterwelt bereitmachte, wo doch das Heil der Auferstehung nur jene erhalten würden, die dem wahren Glauben an Gott folgten. Paulus hoffte, dass sein Gebet zumindest ein wenig was für seine Mutter bewirken würde bei der Errettung ihrer Seele am Ende der Zeit, auch wenn sie Heidin gewesen war. Er stand auf und verließ den Raum. Er hörte durch die Klänge gedämpfter Stimmen, dass sich die Familie im Speisesaal versammelt hatte, doch würde er sich nicht zu ihnen gesellen. Paulus ging an dem Zimmer vorbei und steuerte hinaus ins Freie. Es war Nacht. Die Sterne funkelten und der Mond stand voll und rund im Osten und spendete sein nächtliches Licht. Myra schlief und niemand beobachtete Paulus, wie er langsam durch die engen Gassen wankte. Kein klarer Gedanke fand sich in seinem Kopf, alles war wirr und durcheinander, ohne jede klare Ordnung. So lief er wie ferngesteuert weiter, bis er den Ortsrand erreichte und weiterging in Richtung Strand. Kein Vogel war dieses Mal zu hören, alles war still und schwieg, nur die Melodie der Meeresbrandung war zu vernehmen, während sie unaufhörlich Woge für Woge an den Strand brandeten. Paulus lief jetzt beinahe schon, er eilte in Richtung Meer und dort im nassen Sand, leicht umspült von Meerwasser sank er auf die Knie. Er vergrub sein Gesicht in den Händen und heiße Tränen rollten da plötzlich doch noch aus ihm hervor. Er weinte und weinte und er zitterte unkontrolliert am ganzen Körper. Dann richtete er sich auf Knien weit auf und schrie. Er schrie unentwegt ohne klare Worte sein Leid hinaus, lange Zeit, ehe er sich wieder zusammenkauerte und bitterlich weiter um seine tote Mutter trauerte. Lange Zeit noch lag Paulus so da und klagte, seine Kleider waren nass, Sandkörner bedeckten ihn und die Augen brannten vom Meerwasser, doch war dies alles Paulus im Moment egal. Er raufte sich die Haare und zeriss seine Gewänder und weinte, weinte.
    Er hatte seine Mutter geliebt. Wirklich geliebt. Auch wenn sie Heidin gewesen war und sich immer geweigert hatte, Paulus anzuhören, wenn dieser versucht hatte ihr von Christus und seiner Botschaft für die Welt zu erzählen. Auch seiner übrigen Familie hatte Paulus versucht von Jesus zu erzählen, doch niemand hatte sich besonders für seine "philosophischen Eigenheiten" interessiert. Gestern war es Plato und heute eben dieser Jesus von Nazareth, kein Grund seine Zeit mit dem aktuellen philosophischen Hauptinteressensobjekt Paulus' zu verschwenden, so ihre Meinung, vor allem, wenn dieser predigte, dass man den Armen alles geben sollte, was man selbst besaß. Nach einer Weile hatte es Paulus aufgegeben gehabt, mit ihnen darüber zu sprechen, wenn es ihn auch ein wenig geschmerzt hatte, dass seine Familie wohl nicht erlöst werden würde am Tag des Jüngsten Gerichts. Doch bei seiner Mutter fand er es doppelt so schlimm, dass sie nicht errettet werden würde, weshalb Paulus sich noch einmal auf Knien aufrichtete und zum Himmel hinaufrief in seiner Trauer: "Herr! Herr, erlöse sie! Bitte erlöse sie, Herr, bitte!" Dann sank er wieder schluchzend zu einem Bündel zusammen und vergrub sein Gesicht vornübergebeugt in seinen Händen, während das Meerwasser seine Lider umspülte und er mit etwas Sand und Salzwasser im Mund immer noch unter Tränen leise weiterwimmerte: "Erlöse sie, oh bitte erlöse sie. Erlöse sie..."


    * Iatros (altgr.) = Medicus, Arzt

  • Drei Wochen waren seit dem Begräbnis von Paulus' Mutter vergangen, doch fühlte er sich noch immer nicht besser. Noch immer saß der Schmerz tief in ihm. Er vermisste sie, ganz so wie das eben natürlich war bei einer gesunden Mutter-Sohn-Beziehung. Zusätzlich noch diese Sache um ihr Seelenheil, da sie ja als Heidin gestorben war. Paulus beschäftigte dieser Umstand selbst jetzt nach all diesen Wochen noch, was ihn sogar ein wenig selbst überraschte. Doch jetzt konnte er schwerlich noch etwas für sie tun, außer sie täglich in sein Abendgebet miteinzubeziehen. Vielleicht würde ja das etwas bringen. Wie dumpf wanderte Paulus durch die Straßen Myras. So viel grauer und kälter wirkte die Welt seit Mutters Dahinscheiden für Paulus. Doch das schien seine Mitmenschen nicht zu kümmern. Fröhlich plauderten, riefen, pfiffen und lachten sie auf den Straßen und Märkten durcheinander, als gebe es kein Leid auf der Welt, das sie erschüttern könnte und alles perfekt wäre. Vor dem großen Tempel der Artemis Eleuthera, der Schutzgöttin Myras, herrschte ein reges Gedränge. Hausierer und Münzwechsler boten ihre Waren und Dienstleistungen feil und am Tempelvorplatz drängten sich mehrere Stände, die Weihrauch, Opfergaben, oder kleine Artemisstatuen als Souvenier für Durchreisende, verkauften. Der Kult rund um die keusche Göttin der Jagd war ein reges Geschäft für die Stadt Myra, dachte sich Paulus, als er mit seinem toten Inneren so dasaß und beobachtete, wie eine Gruppe orientalisch gekleideter Pilger mit Wanderstäben und langen Rauschebärten die Stufen zum Tempel hinaufstiegen.


    Dass es die Göttin nicht verärgerte, dass Sterbliche mit ihrem Heiligtum Schindluder trieben und es für bare Münze vermarkteten und in Paulus' Augen entehrten. Natürlich war das bei so ziehmlich jedem größeren heidnischen Tempel Gang und Gebe, wenn man bedenkt, sogar einst in Jerusalem waren diese Art Geschäfte im jüdischen Tempel des Salomo abgewickelt worden, ehe der Heiland kam und dem Spuk ein Ende bereitete (und die Römer dem Tempel selbst im Jahre des Herrn 70). Normalerweise hatte Paulus ja auch ein doch entspannteres Verhältnis, da er ja durch seine vielen diversen philosophischen Studien die Blickwinkel anderer Weltanschauungen verfolgte und verstand, doch seit er so neben der Bahn war, war ihm das was er sah ein Graus. Sein erster Impuls war es im Namen des Herrn dorthin zu gehen und die Tische der Tempelhändler umzustoßen und sie Gott zu lehren, doch halt. Ruhig Blut, Paulus, das wäre der falsche Weg. Denn erstens, war dieser Ort ja gar nicht seinem Gott geweiht, sondern sowieso einer heidnischen Götze und zweitens, würde Paulus sich strafbar machen. Zu einem wegen Sachbeschädigung fremden Eigentums und zum anderen wegen des begangenen Vergehens von der öffentlichen Prädigung des Wortes des christlichen Gottes, was gemäß dem römischen Gesetz, genauer dem Decretum Christianorum, verboten war und Myra war nun einmal Teil des römischen Imperiums. Ach die Römer, Paulus verzog am Gedanken an sie leicht den Mundwinkel. Sie kamen in die Länder Anderer und nahmen es sich mit Gewalt. Sie plündern und saugen ihre Provinzen bis auf den letzten Sesterz und die letzte wertvolle Ressource aus und im Gegenzug bieten sie ein Leben in Knechtschaft. Verhält man sich gut, darf man weiterhin seine althergebrachten kulturellen und religiösen Gebräuche fortführen, doch nicht im Falle der Christen, was Paulus sehr verwunderte. Aus irgendeinem Grund bereitete gerade die kleine, unbedeutende Gruppe der Christen den Römern so viel Angst, dass sie extra für sie (und nur für sie!) Verbotsdekrete erlassen hatten. Paulus spürte leichten Groll tief in sich regen. Er musste zu seinem Glauben schweigen und die Peitsche fürchten, während diese Tempelhändler dort vor sich offen ihre Ware für den Kult an die heidnische Götze veräußern durften. Das war ungerecht!
    Wie kamen seine Glaubensbrüder dazu, unter diesem Umstand leiden zu müssen? Paulus brummte.


    Es war Zeit, dass sich jemand darum kümmern würde, dass er, Paulus, sich darum kümmern würde. Jetzt hielt ihn sowieso nichts mehr an diesem Ort. Es war soweit, dass Paulus Myra verlassen wollte.

  • Hinterher betrachtet war es doch schwerer gewesen, als er es zuvor angenommen hatte.
    Nachdem Paulus vor den Stufen des Tempels der Artemis Eleuthera für sich entgültig den Schluss gezogen hatte Myra verlassen zu wollen, hatte er damit begonnen verschiedene Vorbereitungen zu treffen. Eine davon war neben weltlichen Dingen, wie der Besorgung von Proviant gewesen, es auch seiner restlichen noch lebenden Familie mitzuteilen, dass sie ihn schon bald möglicherweise für Jahre, oder Jahrzehnte (oder gar nie wieder?) nicht mehr zu Gesicht bekommen würden. Dafür hatte er alle seine Geschwister, seinen Vater, seine steinalte Großmutter, des Vaters Bruder und des Vaters vier Schwestern samt ihren Ehemännern und deren Kinder in das triklinion ihres Hauses geladen. Nach Speis und Trank, wo Paulus noch einmal versucht hatte mit so vielen Mitgliedern seiner Familie Gespräche zu führen und ihnen noch einmal ins Gesicht sehen zu können, hatte er nach Ende des Mahls dann schließlich um Ruhe gebeten. Als alle Aufmerksamkeit dann auf ihm ruhte, hatte er sich aufgerichtet und begonnen zu sprechen: "Meine lieben Freunde, es freut mich, dass wir die letzten Stunden in so inniger Eintracht zusammen verbringen hatten können und es war ein wirklich großer Trost für mich jeden einzelnen von euch noch einmal zu sehen. Denn ich habe euch nicht grundlos heute hierher bestellt, nein, so schwer es mir fällt, ich habe euch etwas zu sagen. Ich verlasse euch." Da ging plötzlich ein Raunen durch die Menge, verwirrte Blicke wurden getauscht und in verschiedensten Formulierungen ertönten da und dort immer wieder "Warum?". Paulus atmete einmal tief ein und aus. Natürlich war das nur die logische Folge einer solch ungeheuerlichen Verkündung. Vor allem sein Vater blickte ihn überrascht und ungläubig an. An seinem Mienenspiel war zu erkennen, dass er nicht wusste, ob er wütent, traurig, oder glücklich darüber sein sollte. Ständig hin und hergerissen zwischen diesen drei Emotionen. Paulus hob die Hand, um seine Angehörigen zu beruhigen. Auch wenn er ihnen im folgenden jetzt erklären würde, wieso er fort müsse, wusste Paulus jetzt schon, dass seine Gründe sie noch weniger erfreuen würde. "Bitte doch, meine Lieben, so hört mich an! Ich will euch ganz genau erklären, wieso ich fortgehe. Denn dieser Grund, oder besser gesagt diese Gründe sind vielfältig. Ich weiß nicht wie ich alles richtig in Worte fassen soll, um jeden Gedanken mit euch sinngemäß teilen zu können ohne Missverständnisse, doch ich will es versuchen. Ein Grund ist der Tod meiner vielgeliebten Mutter, meiner Geschwister hochverehrten Mutter, meines Vaters vergötterten Eheweibes, ihrer eigenen Geschwister unabkömmlichen Schwester und ebenfalls geliebten Tochter ihrer bereits verschiednen Eltern. Es herrscht seit ihrem Tod so eine große Kluft an jenem Platz in meinem Herzen, wo sie einst saß, dass ich diesen Schmerz nicht länger ertrage, ich muss in die Welt hinausziehen und versuchen dort irgendwie auf Reisen meinen Kummer zu überwinden." "So gehst du auf Handelsreisen? Machst du Geld und Gewinn?" quakte da gleich seine steinalte Großmutter zwischen all ihren Runzeln hervor. Das war nur eine natürliche Annahme für sie, wo es doch ihr Sohn damals zu erstaunlichem Reichtum gebracht hatte, nachdem er, Paulus' Vater, Antiochia, die ehemalige Heimat der Familie, verlassen hatte. Doch in diesem Punkt musste Paulus das alte, atmende Lebendskelett enttäuschen. "Nein, nicht das Streben nach Gold, oder anderen weltlichen Gütern ist es, die mich außerdem forttreibt, sondern der Versuch nach höherem Wissen und Erkenntnis zu trachten." Wieder ein Raunen, das durch die Menge ging. Paulus wollte fortlaufen, um bei Nichtsnutzen wie Philosophen herumzuhängen und Wolkenschlösser im Kopf zu erbauen, anstatt dass er sich eine eigene Existenz z.B. durch ein von ihm gegründetes Handelsunternehmen aufbaue? Nicht gerade so wirklich gern gesehen in einer traditionellen Handelsfamilie, die zwar wohlhabend, aber ohne jede politische Ambition war. Doch Paulus ließ sich nicht beirren, sondern fuhr fort: "Schon immer hat es mich fasziniert die Wunder und Geheimnisse unserer wunderschönen Welt und der des Geistes zu finden und zu erforschen und zu studieren wie mannigfaltig verschieden all diese Menschen auf der Welt in ihren unterschiedlichen Kulturen darüber denken. Dieser Professur will ich verstärkt meine Aufmerksamkeit schenken und auch dem höheren Wohl."
    Bei Paulus' letzten Worten mischten sich wieder einige verwirrte Wortmeldungen und Blicke untereinander in die anwesende Menge, nur Paulus' Vater und einige seiner Geschwister seufzten auf (teils genervt), oder verdrehten die Augen, denn sie wussten natürlich wohl, was ihr Angehöriger damit gemeint hatte; seinen Glauben an diesen jüdischen Wanderprediger.


    Paulus wusste nicht, ob er diesen letzten Aspekt seiner Gründe näher erläutern sollte. Bisher hatte er gute und für einfache Leute nachvollziehbare Gründe geliefert, wieso er fort wollte. Um die Trauer um seine tote Mutter zu bewältigen und sich nebenbei zum größeren Philosophen heranzubilden, als er jetzt schon war. Doch wenn er jetzt auch noch damit beginnen würde, von seinem Glauben zu erzählen? Keine leichte Entscheidung. Letzteres war der dritte wichtige Grund für seinen Weggang und es wäre mit seinem christlichen Ehrgefühl unvereinbar gewesen, hätte er gerade diesen Aspekt seiner kommenden Reise verschwiegen. Andererseits wusste er sehr genau, dass seine (heidnische) Familie es nicht gut auffassen würde, ja nicht wirklich verstehen würde und es nur böses Blut gebe, was er doch vermeiden wollte. Und zudem hatte er mit seiner abschließenden Metapher ihnen doch schon irgendwo seine finalen Absichten erläutert, besonders erkenntlich an den Reaktionen seiner engeren Familie, weshalb Paulus sich entschied es damit gut sein lassen zu wollen. Zu weitschweifenderen Ausführungen diesbezüglich war er (noch) nicht bereit. Eines Tages vielleicht, doch nicht heute.
    "Dies zumindest sind meine Gründe, die ich euch hiermit mitgeteilt habe." Meinte er abschließend und setzte sich und eine Flut an Fragen und Anmerkungen in der Menge und auch in seine Richtung begann.

  • Die Tür knarzte, als sie ins Schloss fiel. Vater musste sie unbedingt einmal wieder ölen. Ob er noch einmal schnell zurückgehen und es ihm sagen sollte? Doch nein, besser nicht. Paulus starrte unverwandt die Eingangstür seines Elternhauses an. Es war alles gepackt und verladen, heute war der Tag seines Aufbruchs aus Myra gekommen. Soeben hatte sich die Eingangstür dieses Hauses zum letzten Mal in seinem Leben geöffnet und wieder geschlossen. Paulus würde dieses Haus nie wieder betreten. Er seufzte, tief in Gedanken, als ihm das vollends bewusst wurde. Eine Möwe kreischte über ihm auf einer nahen Hausfassade sitzend. Es war früher Morgen und alle Bewohner Myras schliefen noch. Auch sein Vater. Es war fast genauso wie damals, als Paulus draußen auf dem Strand gestanden und mit seinem Gewissen gerungen hatte. Er würde nicht mehr zurückgehen, um das mit der quietschenden Tür weiterzusagen, sein Vater würde heute aufwachen und ein leeres Haus ohne Paulus vorfinden. Genug Scherereien hatte es in letzter Zeit gegeben, so war der Abschied am besten. Das hatte er sich auch heute Nacht schon immer wieder in seinem Bett vorgesagt, als er nicht schlafen konnte. Paulus gab sich einen Ruck und machte eine Vierteldrehung mit seinem Körper in Richtung Meeresgewässer.Eine ganze Weile stand er einfach nur da. Seine Füße fühlten sich bleischwer an. Ja nicht von der Stelle zu bekommen, als wäre Paulus plötzlich festgewachsen. Komm schon! Du hast das wochenlang geplant! Schalt er sich gedanklich selbst, ein wenig ärgerlich über diese Angst in ihm vor diesem großen Schritt wegzugehen. Mit Mühe machte er den ersten Schritt und dann den zweiten und dann immer so weiter, bis er einen flüssigen Gang hatte ohne stockende Bewegungen. Mit jedem Schritt fiel es ihm leichter, jeder Schritt der ihn weiter vom Haus seiner Eltern wegbrachte, war ein Schritt in die Freiheit. Wo die Luft klar und gesund war und nichts auf den Magen, oder die Schultern drückte. Schon kurze Zeit später begann er auch das Tempo zu erhöhen, immer rascher.
    Am Ende bewegte sich Paulus fast schon im Laufschritt. Nur weg von hier! Das Schiff, das ihn aus Myra wegbringen würde, war bereits schon zu sehen. Es ankerte weiter draußen vor der Küste. Ein Handelsschiff mit Kurs nach Athen. Am Strand lag das Ruderschiff der Händler, bereit auszulaufen. Die Kaufleute waren schon vollzählig versammelt, sie warteten nur noch auf Paulus. Er eilte zu ihnen hin und begrüßte sie, ehe er mithalf das Boot in tiefere Gewässer zu schieben und danach hineinzuklettern und zum Schiff zu rudern. Er war derartige Anstrengung nicht gewohnt. Schnell wurde er müde und die Arme begannen zu schmerzen, doch Paulus biss die Zähne zusammen. Immer weiterrudern.
    Endlich erreichten sie den Kahn und müde und ausgelaugt kletterte er an Deck. Beim Setzen der Segel war er keine große Hilfe, das erledigten die seeerprobten Matrosen des Schiffes. Affengleich hangelten sie sich in der Takelage herum und brachten die Segel in Stellung. Ein Windstoß blähte sie auf und das Schiff setzte sich in Bewegung. Weg von Myra. Paulus Heimat. Von allem, was er bisher geliebt und gekannt hatte.

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