Jenseits des Rhenus

  • Dass es mühsam werden würde, war Malleus von vornherein klar gewesen. Dagegen war auch nichts einzuwenden. Wer die Mühsal scheute, musste eben zuhause bleiben und sich den schlaffen Hintern am Herdfeuer wärmen. Sorgen hatte er sich anfangs lediglich um Procella gemacht, aber Publius’ Dreijährige schlug sich mehr als wacker. Die Entscheidung, den betagten Funkan im Stall zu lassen und stattdessen der zunehmend unruhigen Stute die notwenige Bewegung zu verschaffen, war also die richtige gewesen. Trotzdem befanden sie sich nicht gerade auf einem unbeschwerten Spazierritt. Von der Brücke bis zur ersten Weggabelung war es noch relativ zügig voran gegangen. Bis dorthin hatten die Baueinheiten der Zweiten Legion eine Schneise in den Schnee geschaufelt, die zumindest breit genug war, um Patrouillen und schmalen Fuhrwerken ein Durchkommen zu ermöglichen. Östlich der Gabelung jedoch markierte nur noch eine dünne Linie aus überwehten Spuren den Weg, der im Grunde gar keiner mehr war. Im Sommer hätte Malleus für die Strecke vom Rhenus bis zu seinem einstigen Heimatdorf selbst auf einem trägen Karrrengaul keine zwei Stunden gebraucht. Der germanische Winter aber war die Zeit der Götter, nicht die der Menschen. Allein Wodan zog in den dunklen Monden ungehindert über Land. Die Sterblichen, die es ihm gleich tun wollten, ob nun fürwitzige Römer oder gelangweilte Starrköpfe wie Malleus, lieferten sich auf Gedeih und Verderb den Launen des einäugigen Wanderers aus. Nicht in Kälte und Schnee zeigte sich dessen Unwille, dagegen konnte man sich wappnen. Auch nicht in der Gestalt von Wölfen oder von ihren Stämmen verstoßenen Wegelagerern, dagegen konnte man sich verteidigenden. Um Reisende ins Verderben zu stürzen, bediente er sich subtileren Mitteln: Dem Leichtsinn, der Selbstüberschätzung und der Unaufmerksamkeit des Reisenden selbst. Sich dessen völlig bewusst, hielt Malleus die Zügel locker, trieb die Stute nur selten an, und ließ sie ansonsten ihren eigenen Instinkten folgen. Sie hatten Zeit. Wenn nötig bis zur Abenddämmerung. Ein plötzlicher Schneesturm war nicht zu befürchten. Nicht an diesem klirrend kalten Tag. Das sagte ihm zum einen der kristallklare Morgenhimmel, zum anderen die lange Narbe am rechten Bein, die jeden Wetterwechsel zuverlässig mit stechenden Schmerzen anzukündigen pflegte. Keinerlei Schmerzen heute. Das war erfreulich, denn so irre war nicht einmal er, sich bei ungewisser Wetterlage auf den Weg durch die Schneemassen zu machen. Zumal aus purer Langeweile. Weil ihm im engen überheizten Haus seines Bruders Sebald die Decke auf den Kopf fiel.


    „Wara, Procella. Sachte, sachte..“redete Malleus mit ruhiger Stimme auf die temperamentvolle Stute ein, während er sie mit einem sanften Schenkeldruck dazu brachte, sich von den alten Hufspuren fern zu halten. Diese vereisten Löcher waren tückisch. All zu schnell konnte sich ein aufgeschrecktes Pferd darin die Fesseln aufreißen oder gar die Vorderhand brechen. Procella schien zwar gute Nerven zu haben, nichtsdestotrotz war es sicherer, sich neben den Spuren durch den Schnee zu arbeiten. Vor Anhöhen, Schneewehen und verdächtigen Mulden stieg Malleus aus dem Sattel und ging der Stute voran, die Zügel in der Linken und einen langen Eichenholzstab, mit dem er Beschaffenheit und Tiefe des Schnees prüfte, in der Rechten. Keine Hast. Keine Eile. Nach jedem kräftezehrenden Anstieg, nach jedem durchquerten Tiefschneefeld machte Malleus eine Verschnaufpause, rieb Procella mit einem Wolltuch ab und betrachtete die Umgebung. Sebalds ohnehin recht vage Wegbeschreibung erwies sich als völlig unnütz. Offensichtlich war er selbst seit vielen Jahren nicht mehr hier gewesen. Das Land östlich des Rhenus war mit den Jahrzehnten ein anderes geworden. Die schneebedeckten Felder nahmen kein Ende. Wo sich einst lichte Laubwälder dem Fluss bis auf einen breiten Uferstreifen genähert hatten, dehnten sich nun gerodete Flächen meilenweit gen Osten aus. Wo einmal schattenspendende Baumgruppen als Wegmarken gedient hatten, säumten wilde Hecken und niedere Sträucher den Pfad. Kleine Höfe duckten sich auf flachen Hügeln zusammen, wo es früher nichts als Gestrüpp gegeben hatte. Die verwandelte Landschaft unter dem dichten Schneemantel machte die Orientierung nicht eben einfach. Malleus blieb gelassen. So lange die fernen Höhen des Tauno ihre Formation beibehielten und so lange die Sonne noch nach Westen zog, würde er sich hier zurechtfinden. Außerdem war da noch der Quellbach. Der entsprang am Hang hinter dem Dorf und grub sich bis hinunter zum Rhenus. Wenn Malleus die zurückgelegte Strecke auch nur einigermaßen richtig einschätzte, konnten sie den Bach nicht verfehlen. Und sie verfehlten ihn auch nicht.

  • Der Quellbach kam von Nordosten herunter. Vom dichten, nun kahlen Laubwald her, an dessen Saum Malleus geboren war. Kaum breiter als ein starkes Schiffstau ringelte sich das Bächlein durch den Schnee. Feine Dampfschwaden stiegen vom Wasser auf. Mit einem sanften Tätscheln der Kruppe trieb Malleus die Stute auf das Rinnsal zu. Der Quellbach, so langsam und seicht er durch die Landschaft kroch, gefror nicht. Nie. Das Wasser kam nicht eisig und klar aus der Erde, sondern handwarm und leicht bläulich. Und es schmeckte wie kein anderes Wasser, von dem er jemals gekostet hatte. Erde. Fels. Eisen. Etwas säuerlich und gleichzeitig süß. Malleus stieg ab, trat auf die schmale Rinne zu, tauchte die Hände hinein und trank. Oft schon hatten ihn seine Erinnerungen getrogen, das Wasser des Quellbaches aber schmeckte noch ganz genau so wie in Kindertagen. Wann hatte er zum letzten Mal davon getrunken? Er rechnete nach und erschrak. Vierundvierzig Jahre. Nachdenklich sah Malleus auf sein leise gurgelndes Spiegelbild hinunter. War das ein alter Mann, der ihn da anglotzte? Ein alter Narr gar, der nicht wahrhaben wollte, dass es keinen Platz mehr für ihn gab? Procellas’ ungeduldiges Schnauben riss Malleus aus seiner Starre. Die Stute drängte nun ebenfalls ans Wasser. Malleus drückte ihr sacht den Kopf beiseite. „Nein, Mädchen. Zu kalt für dich.“ Und zu bitter für ihn selbst. Seufzend erhob er sich und blickte bachaufwärts. Etwa zwei Meilen nordöstlich teilte sich das dunkle Band des Waldes. Dort lag ihr Ziel. Zwischen den ersten Baumreihen. Unter den fahlen Rauchfahnen, die schnurgerade in den Himmel ragten wie die Lanzenspitzen einer angetretenen Centurie.


    Auch die Siedlung war nicht mehr dieselbe, konnte es gar nicht sein, war sie doch auf den Trümmern des Dorfes neu erbaut worden, das Malleus als Sechsjähriger verlassen hatte. Ein paar Häuser hatten den brandschatzenden Chatti zwar standgehalten, aber selbst die waren inzwischen umgebaut und erweitert worden. Einzig der enge Dorfweg hatte seine alte Richtung beibehalten. Von den Feldern kommend zwischen Werkstätten und Koben hindurch den Hang hinauf zur Quelle. Malleus ließ Procella gemächlich über den festgestampften Schnee traben. Aus den Ställen drang träges Schnauben. Von den Wohnhäusern wehte gedämpftes Gemurmel auf die fast menschenleere Gasse heraus. Ein spindeldürrer Bursche mit glutrotem Bart kam mit einem Korb voll Brennholz aus einem schiefen Schuppen und blinzelte Malleus misstrauisch an. Vor dem mit üppigen Schnitzereien verzierten Tor eines ansehnlichen Langhauses balgten sich drei dick vermummte Halbwüchsige in einer Schneewehe. Dort hatte einst das Haus von Berthold dem gutherzigen Zimmermann gestanden, dessen Frau Tilrun dem kleinen Malleus einmal eine selbstgewebte heidelbeerblaue Wollhose geschenkt hatte. Berthold und Tilrun. Beide getötet im Jahr der Kaiserwirren.


    Ein Paardutzend Schritte weiter überholten Ross und Reiter ein gebeugtes altes Weiblein, das ein Bündel Ruten auf dem krummen Rücken schleppte und Malleus mit wässrigen Augen anstierte. Der Weg beschrieb eine leichte Biegung und plötzlich gewahrte Malleus, dass er am Ort seiner Geburt angelangt war. Zögerlich stieg er vom Pferd. Von der Heimstatt seiner Ahnen war nichts mehr übrig geblieben, nicht einmal das Fundament. Nur die gewaltige alte Buche stand noch immer völlig unbeeindruckt an ihrem Platz. Dahinter erhob sich ein solide gebautes Wohnhaus mit einem großzügigen seitlichen Anbau. Zweifellos die neue Schmiede.
    Bevor sich die Frage, was er hier eigentlich zu suchen hatte, noch weiter in seinem Kopf ausbreiten konnte, schritt Malleus durch den knirschenden Schnee auf die Tür der Werkstatt zu und klopfte an. Zunächst tat sich gar nichts. Das Knacken der Esse war zu hören, ansonsten klang kein Laut aus der Schmiede. Er klopfte nochmal. Leises Geraschel wurde vernehmbar, dann schob sich die Tür einen Spalt weit auf. Zu sehen war jedoch niemand.


    Gerade als er die Faust erneut zum Klopfen erhob, drang ein piepsiges Stimmlein von unten herauf an sein Ohr: „Ooooh.“ Er senkte den Kopf und blickte in die blauen Augen eines kleinen Jungen, der ihn voll Neugier betrachtete. „Bist duuu ... vielleicht ein Bär?“ Malleus schnaufte. Kinder. „Hast du schon mal einen gesehen?“ Der Kleine machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ach, ganz viele. Bist du ein Bär?“ Malleus sah an sich hinab. Er trug einen Pelzüberwurf, eine lederne Feminalia und dick gefütterte Calcei. Außerdem wucherte sein grauer Bart unter der fellbesetzten Kapuze hervor. Brummend streife er die Kapuze zurück. „Ja, ich bin ein Bär. Ist dein Vater zu sprechen?“ Der Kopf des Jungen zuckte kichernd zurück. „Hmmm .. Papa!“ Schwere Schritte näherten sich. Die Tür wurde aufgestoßen. Vor Malleus stand ein stämmiger junger Mann mit rotblondem Bart. Der Kleine hielt sich feixend an dessen rußgeschwärzter Tunika fest und zeigte freudig auf den Besucher. „Guck mal, ein Bär!“ Der Schmied schob den Jungen hinter sich.
    „Sieht ganz so aus. Wer bist du und was willst du?“
    „Ich bin Cossus Malleus. Bist du Malvin der Schmied?“
    „Bin ich. Und was willst du von mir?“
    „Sei gegrüßt, Junge. Ich bin dein Onkel.“
    Malvins Augen verengten sich. Malleus war nicht entgangen, dass sein Neffe einen noch qualmenden Schwertrohling in der durch einem dicken Lederhandschuh geschützten rechten Hand hielt. Das heiße Eisen hob sich langsam. „Nein, bist du nicht.“ gab Malvin kalt zurück. „ Zum letzten Mal: Was willst du?“ Malleus blickte abwechselnd auf Rohling und Schmied. Unhöflicher kleiner Scheißer! Ob es angesichts der verwandtschaftlichen Verhältnisse wohl angebracht war, wenn er Malvin ein paar wohlmeinende Maulschellen verpasste? So weit kam es erst gar nicht, denn eine brüchige aber durchaus energische Stimme ließ Malleus herumfahren. „MALVIN!“ Die verwachsene Greisin mit dem Rutenbündel war unbemerkt herbei gehumpelt und blitze den Schmied vorwurfsvoll an. „Lass ihn ein! Das ist mein Bruder Wunold. Dein Onkel.“

  • Malleus konnte den Blick nicht von der verhärmten alten Frau wenden, die seine Schwester war. Noch immer steckte ihm der Schreck in allen Gliedern. Er hörte jedes Wort, das Malvin über den gedeckten Tisch an ihn richtete, beantwortete in kurzen knappen Sätzen alle Fragen, die sein Neffe ihm stellte, ohne jedoch das faltige Gesicht seiner Schwester auch nur einen Moment lang aus den Augen zu lassen. Er hatte sie nicht erkannt draußen vor dem Haus, und er erkannte sie auch jetzt kaum wieder. Es hätte ihn schon genug schockiert, eine seiner älteren Schwestern unerwartet im Haus seines verstorbenen Bruders anzutreffen. In diesem Zustand. Vergreist und verbittert. Aber vor ihm saß weder Dagny noch Uta, sondern die kleine Eldrid. Geboren acht Jahre nach ihm. Das war entsetzlich.
    „Du starrst mich an, Wunold.“ sagte sie plötzlich. Malleus sah ihr offen in die Augen.
    „So ist es.“ Sollte er es bestreiten?
    „Und? Was siehst du?“
    Ein Grab, hätte er sagen können, einen Abgrund. Er sagte es nicht. Er sagte gar nichts. Eldrid wollte, das war ihm klar, ohnehin keine Antwort. Er dagegen schon. Aber das musste warten. Es ziemte sich nicht, das Gespräch an sich zu reißen, so lange der Hausherr das Wort hatte, so war es Brauch von alters her. Auch wenn sich der Familienvorstand in fast kindlicher Aufregung in seinen eigenen Erzählungen verhedderte, wie es bei Malvin der Fall war. Hier war man Gäste ganz offensichtlich nicht gewohnt. Der ganze Haushalt – bestehend aus Malvin’s Weib Eghilt, seiner Mutter Blidgard, dem kleinen Ulf und den zwei Gesellen Birger und Gerwin – betrachtete Malleus mit angespanntem Schweigen wie man ein exotisches Wundertier betrachtet. Nur Eldrid nicht, die blickte ins Leere. Malleus wartete geduldig ab, bis Malvin nichts mehr einfiel, wonach er fragen oder wovon er berichten sollte, hob dann den Metbecher und lächelte in die Runde. „Ich danke für die Gastfreundschaft. Und nun lasst uns mal rausfinden, ob das Zeug, das ich mitgebracht habe, auch genießbar ist.“ Ende des offiziellen Teiles. Mit der Aufforderung zum Mahl löste sich die Stimmung augenblicklich.


    Es schmeckte ihnen, das war nicht zu überhören. Eghilt hatte aus allen Mitbringseln eine Auswahl an Kostproben zusammengestellt. Hartkäse, geräucherter Bauch, getrockneter Flussfisch, gepökelter Schinken, gedörrtes Obst. Malleus war höchst zufrieden. Was hätten sie mit kunstvoll verschlungenen Vasen oder anderem römischen Zierrat schon anfangen können? Davon wurde man nicht satt. Sogar Eldrid aß mit sichtlichem Appetit, wenn auch in kleinsten Häppchen, von denen sie jedes einzelne mit einem Schluck Dünnbier hinunter spülte. Es wurde laut am Tisch. Ulf erzählte allen Anwesenden bestimmt zum fünften Mal, wie er ganz alleine dem großen Wunolbdbären entgegen getreten war. Malvin erläuterte den Gesellen, was bis zum Abend noch an Arbeit anstand. Eghilt und Blidgard diskutierten darüber, ob es sinnvoll war, den Pökelschinken noch zusätzlich zu räuchern, um ihn so lange wie möglich haltbar zu machen. Malleus flogen immer wieder freundliche Blicke zu, aber er stand nicht mehr im Mittelpunkt des Interesses, sondern war einfach einer von acht. Und das wärmte ihm das Herz auf eigentümliche Weise.

  • Nachdem alles aufgegessen war – und besonders lange hatte das nicht gedauert – wurden Speisen und Spender mit ausgedehntem Rülpsen gehuldigt. Auch der kleine Ulf mühte sich redlich, musste aber noch jede Menge Luft schlucken, um einen tragenden Ton zustande zu bringen. Malvin beendete das Mahl, indem er noch einmal feierlich den Becher erhob. „Dank und Preis sei Wodan für die glückliche Heimkehr unseres Blutes! Heil dem Geber! Heil dem Schirmer!“ Malleus honorierte den Segensspruch mit einem etwas dünn geratenen Lächeln. Heimkehr? Nun ja. Schmied und Gesellen erhoben sich als erste. „Verzeih, Onkel Wunold.“ wandte sich Malvin mit merklichem Bedauern an Malleus. „Es gibt drüben noch einiges zu tun. Möchtest du vielleicht die Schmiede besichtigen? Oder das Dorf? Ich könnte Birger eine Weile entbehren, er kann dir alles zeigen, wenn du willst.“ Malleus winkte lächelnd ab. „Danke, Junge. Aber das hat Zeit. Macht euch an die Arbeit. Wenn ich hier nicht im Weg bin, würde ich gerne noch eine Weile die Behaglichkeit deines Hauses genießen.“ Malvin ließ einen trüben Blick umher schweifen. „Aber natürlich, Onkel. Wenn du dieser Art von Behaglichkeit noch etwas abgewinnen kannst, nach all den Jahren bei den Romani.“ Die Männer griffen schweigend nach ihren Überwürfen und stapften an Herdfeuer, Schlaflagern und Vieh vorbei zur Tür. Malleus sah ihnen grübelnd nach. Hatte er da eben einen leisen Vorwurf vernommen? Oder war es gar so, dass Malvin sich für die althergebrachte Lebensweise schämte? Junger Dummkopf. Für wen hielt er seinen Onkel? Für einen verwöhnten Patrizier? Sicher, es waren viele Jahre vergangen, seit Malleus das letze Mal sein Essen in einem von Qualm und Dunghauch geschwängerten Langhaus eingenommen hatte, in dem Mensch und Vieh den Wohnraum teilten und sich gegenseitig wärmten. Dafür hatte er in engen Truppenunterkünften gehaust, in klammen Lederzelten, notdürftigen Verhauen und im Feld gelegentlich auch auf einer klebrigen Unterlage aus geronnenem Blut und zerdrückten Pferdeäpfeln. Versonnen sah er zu Ulf hinüber, der strahlend an einem zähen Stück Schinkenschwarte lutschte. Der Kleine war offenkundig glücklich und zufrieden mit seinem Elternhaus, und das durfte er auch sein. Jeder Mensch brauchte Heim und Herkunft.


    Schließlich erhoben sich auch die Frauen. Eghilt räumte den Tisch ab. Blidgard begab sich hinter den Webstuhl. Eldrid schien noch zu zögern, nahm dann aber die mitgebrachten Ruten auf und setzte sich neben einen halbfertigen Weidenkorb, um sie zu sortieren. Eigentlich hatte Malleus die ganze Zeit auf diese Gelegenheit gewartet, wusste nun aber nicht recht, wie er seine Schwester auf ihre Verfassung ansprechen sollte, ohne sie zu kränken. Mehr um Zeit zu gewinnen als aus Notwendigkeit stand er auf und schlurfte nach vorn zu den Tieren, um nach Procella zu sehen. Die Stute und Malvin’s eher unansehnlicher Gaul standen einträchtig nebeneinander und scharrten träge im ausgelegten Stroh. Daneben kauten vier magere Kühe stumpfsinnig vor sich hin, gelangweilt beobachtet von einem knappen Dutzend Schafe, die für einen Winter im Freien offensichtlich zu spät im Jahr geschoren worden waren. Ob sein Neffe ein guter Schmied war, konnte Malleus noch nicht einschätzen, als Bauer jedenfalls war er keine Offenbarung. Das zeigte sich auch an seinem Hengst. Schon auf den ersten Blick war Malleus aufgefallen, dass die Fesseln der Hinterbeine fast waagerecht standen und so die Beugesehnen extrem überdehnt wurden. Diesem Pferd hatte man viel zu früh viel zu schwere Lasten aufgebürdet. Korrigieren ließ sich das kaum mehr. Kopfschüttelnd beugte sich Malleus hinunter und betastete vorsichtig den Mittelfuß. Steinhart. Welch ein Jammer.


    Während er noch tonlos auf den Pferdefuß hinunter fluchte, hörte er hinter sich ein Tapsen im Stroh, begleitet von piepsigem Singsang. „Wunold, Kuuhnold, Muuuhnold. Onkel, Ponkel, Puuh.“ Da war er also wieder, der furchtlose kleine Bärenbezwinger. „Deins ist schöner. Schenkst dus mir? Dann hab ich auch eins.“ Malleus streckte sich wieder und fuhr mit der Hand langsam am Hüfthöcker des Hengstes entlang. „Geht nicht. Brauch ich noch.“ Ulf ließ ein langgezogenes Schniefen vernehmen. „Hmmm. Noch lange?“ Malleus verstand nicht so ganz, und drehte sich mit fragendem Blick zu dem blonden Wuschelkopf um.
    „Hä?“
    „Weil .. du bist doch schon ganz alt. Kannst es mir ja schenken, wenn du gestorben bist. Oder, Onkel?“
    „Und das wäre deiner fachkundigen Einschätzung nach wann? Morgen?“
    „Hä?“
    „Also, ein paar Tage schlepp ich mich schon noch durch, Kleiner. Tut mir leid.“
    „Naaa gut.“
    Ulf bohrte sich missmutig mit dem Finger im Ohr, gab sich aber noch nicht geschlagen.
    „Und wenn der Schnee weggeht? Stirbst du, wenn der Schnee weggeht? Wie Großvater?“
    „Ich werd mir Mühe geben. Hast du Lust, ein bisschen zu spielen? Draußen?“
    „Au ja!“
    „Fein. Ich hab fünf Häuser weiter ein paar spielende Jungs gesehen, die lassen dich sicher mitmachen.“
    Ulf zog eine Schnute, ließ sich grummelnd ins Stroh plumpsen und machte Furzgeräusche. Malleus behielt sein Grinsen tunlichst unter dem Bart. Drollig, der Bengel. Und er hatte einen Blick für gute Pferde. Das war schon was wert. Verfolgt vom satten Klang gekonnt imitierter Magenwinde ging Malleus zum Tisch zurück, goss sich noch einen Becher Met ein, dann noch einen und setzte sich endlich mit wohligem Grunzen bei den Frauen nieder. Auch Eghilt war mittlerweile mit dem Abwasch fertig und setzte sich dazu. Das Feuer knackte munter. Die Kühe ließen sich in ihre Fladen nieder. Eghilt begann, Wollknäuel auszuzupfen. Blidgard webte. Eldrid flocht. Was bei allen Asen und Wanen – dachte sich Malleus – gab es an dieser Art von Behaglichkeit auszusetzen? Im Gestank wurde man geboren und im Gestank hauchte man auch sein Leben aus.


    Eine Weile ließ er sich einfach treiben. Blickte müde in die dünnen Rauchschwaden unter den Dachbalken. Lauschte den züngelnden Flammen und den geschäftigen Händen der Frauen. Trank seinen Met und bemühte sich, nicht einzunicken. „Schwester.“ sagte er irgendwann leise. Er sah nicht zu ihr hin. Sie sah nicht zu ihm auf. „Was ist dir widerfahren?“

  • Malleus musste lange auf eine Antwort warten. Viel zu lange für seinen Geschmack. So lange, dass er schon zu bezweifeln begann, überhaupt zu Eldrid durchgedrungen zu sein. Als sie endlich doch noch antwortete, tat sie das, ohne aufzublicken mit einer Gegenfrage, die ihm erst recht nicht schmeckte. „Was geht dich das an?“ Damit hatte er nun überhaupt nicht gerechnet. Das konnte nicht ihr Ernst sein, hörte sich aber verdammt danach an. Was ihn das anging? „Was mich das angeht?“ brauste er auf, „Mich? Ich bin dein Bruder!“ Dabei war die Frage im Grunde gar nicht so abwegig. Was ging es ihn eigentlich an? Er hatte kaum an seine Schwestern gedacht in all der Zeit, sie wohlversorgt in Borbetomagus, Novaesium und Nida gewähnt. An der Seite ihrer Männer. Im Kreise zahlreicher Nachkommen. Alles weitere hatte ihn nie gekümmert. Aber jetzt kümmerte es ihn. „Ich bin dein Bruder.“ wiederholte er in deutlich versöhnlicherem Tonfall. „Hab ich denn nicht das Recht, zu erfahren, wie es meiner Schwester ergangen ist?“ Zumal es offensichtlich war, dass ihr das Schicksal übel mitgespielt hatte. Eldrid sah noch immer nicht von ihrem Flechtkorb auf, schien sich aber über seine Worte zu amüsieren. „Ach ja, richtig“, entgegnete sie mit einem fast schon beängstigend rauen Kichern, „Das Recht. Wie konnte ich das vergessen. Euer Recht geht euch schließlich über alles. Nicht wahr? Bruder?“ Malleus sah stirnrunzelnd zu ihr hinüber. „Wovon redest du da? Unser Recht?“


    Schon möglich, dass er sich etwas ungeschickt ausgedrückt hatte, die gepflegte Konversation war nun mal nicht seine Stärke, warum er mit seinen Sätzen so viel offenkundige Bitterkeit ausgelöst hatte, erschloss sich ihm trotzdem nicht. „Haargenau! Euer Recht! Eure Entscheidungen! Eure Sippen!“ Jetzt endlich schaute sie ihn an, und Malleus wünschte sich augenblicklich, sie hätte es gelassen. Was da in ihren Augen glomm, lag weit jenseits bloßer Verbitterung. „Eure Töchter! Eure Schwestern!“ fuhr sie mit zunehmend schriller Stimme fort, „Eure Weiber! Eure Sklaven! Euer Vieh!“


    Eghilt und Blidgard hatten ihre Arbeit mittlerweile unterbrochen und blickten eher abwartend als besorgt auf die immer wilder gestikulierende Eldrid. Die ging nun schlagartig dazu über, ihren Bruder mit Flechtruten zu bewerfen. „Euer Recht! Da scheiß ich drauf! Verstehst du das?“ Gelähmt vor Entsetzen musste Malleus mitansehen, wie Eldrid sich stöhnend auf die zitternden Beine erhob, ihm die knochige Kehrseite entgegen streckte und begann, ihre Wolltunika hochzuschieben. „Schau gut hin, Bruder! Ich scheiß auf euer Recht!“ Gerade noch rechtzeitig, um Eldrid die vollständige Entwürdigung zu ersparen, drängte sich Blidgard dazwischen. Malleus sprang auf. Seine Schwägerin legte sanft murmelnd die fleischigen Arme um seine fauchende Schwester. „Ruhig, ganz ruhig, Eldrid. Lass gut sein. Er wird dir nichts tun.“ Nein? Würde er nicht? Da war er sich gar nicht so sicher. Nur einmal hatte er Ähnliches erlebt. An der pannonischen Grenze. Bei einem blutjungen Eques. Der war beim Anblick einer herannahenden Horde von Jazygen plötzlich hysterisch geworden und hatte mit seinem Kreischen die Deckung der angriffsbereiten Turma preisgegeben. Damals hatten zwei heftige Schläge mit dem Speerschaft ausgereicht, um wieder Ruhe in die Reihen zu bringen. Doch, er war durchaus bereit, seiner Schwester etwas anzutun, wenn es ihm nicht gelang, sich augenblicklich von dieser gespenstischen Szene loszureißen.


    „Ich muss hier raus.“ presste er hervor, griff nach seinem Umhang und stampfte davon. Als er die Tür bereits aufgestoßen hatte, schoss ein mit Strohhalmen bedecktes und nachlässig in einen Fellüberwurf gewickeltes Bündel auf ihn zu. „Ich komm mit!“ „Nein!“ knurrte Malleus nur mäßig beherrscht. „Es ist saukalt draußen!“ Kaum hatte er den Satz vollendet, war das unförmige Fellknäuel auch schon ins Freie entwichen. „Weiß ich! War’s gestern auch schon! Ich bin doch nicht blöd!“ Seufzend warf Malleus die Tür hinter sich zu. Es nützte nicht viel. Obwohl von den Balken gedämpft und überlagert von den metallisch dröhnenden Hammerschlägen aus der Schmiede konnte er das Schluchzen seiner Schwester noch immer deutlich hören. Aus dem Schluchzern wurden langgezogene Klagelaute, aus den Klagelauten abgehakte verzweifelte Rufe. Wunold. Sie rief ihn, genauer gesagt, schrie nach ihm. Ulf, der es inzwischen geschafft hatte, sich den eilig zusammengerafften Wust aus Mantel, Fellmütze, Wollhalstuch und Handschuhen einigermaßen vernünftig anzulegen, deutete mit einem beiläufigen Kopfnicken zur Tür. „Tante Eldrid hat wieder Wind im Kopf.“

  • Ohne sich den Mantel umzulegen, blickte Malleus gedankenverloren an der alten Buche empor. Von Osten schob sich bereits Düsternis über die Wipfel. Die tief stehende Wintersonne mochte noch für eine knappe Stunde Tageslicht gut sein, führ mehr auch nicht. Selbst wenn Malleus ernsthaft in Betracht gezogen hätte, sich unverzüglich auf den Rückweg zu machen, wäre es dafür längst zu spät gewesen. Müßig, abzuschätzen, wie weit er vor Einbruch der Nacht gekommen wäre, ohnehin hatte er nicht vor, sich davonzumachen, ohne ein paar Antworten erhalten zu haben. In Mogontiacum wurde er weder erwartet noch vermisst, und wenn Eldrid seine Anwesenheit nicht ertragen konnte, würde er eben bei den Gesellen in der Schmiede übernachten. „Ist dir nicht kalt, Onkel Wunold?“ hörte er Ulf fragen, und gewahrte im gleichen Moment den aufkeimenden Schmerz, der sich wieder einmal anschickte, durch die linke Seite seines Oberkörpers zu wandern. Kälte und Schwertwunde. Keine gute Kombination. Er musste besser auf sich acht geben. Mit einem unterdrückten Keuchen warf er sich den Mantel über, knüpfte sich die Schließbänder zu und ließ dann langsam seine Schultern kreisen. Ulf beobachtete die Lockerungsübungen mit unverhohlener Faszination. „Hat sie das öfter? Wind im Kopf?“ Anstatt zu antworten, begann der Kleine, die Bewegungen seines Oheims etwas unbeholfen nachzuahmen. Dass er sich dabei ausnahm wie ein balzender Birkhahn, tat dem Eifer keinen Abbruch. Malleus sah dem flatternden Bengel eine Weile wortlos zu, trat dann aus dem langen Schatten der Buche und schlug, ohne recht zu wissen, warum, den Weg hinauf zum Quellhang ein. Nach gerade einmal zwanzig Schritten kam ihm das unförmige Knäuel auch schon nachgewuselt. „Nicht oft, aber manchmal schon.“ berichtete Ulf schnaufend. „Meistens, wenn fremde Leute zu Papa in die Schmiede kommen. Da kriegt sie Angst, glaub ich.“ Malleus nahm die Information brummend zur Kenntnis, hatte aber so seine Zweifel, ob der Junge Eldrid’s Verhalten richtig zu deuten imstande war. Nach Angst hatte das nicht ausgesehen, eher nach tiefsitzendem Hass. „Angst wovor?“ fragte er trotzdem. Ulf zuckte mit den weichgepolsterten Schultern. „Weiß ich doch nicht. Bist du auch ein Schmied?“ Malleus verneinte. „Dann bist duu ..“ Ulf’s Stimme wurde zu einem bedeutungsschweren Raunen, „.. ein Gode?“ Fast hätte Malleus laut aufgelacht. „Nein, das schon gar nicht.“ Ob ihn diese Klarstellung enttäuschte oder beruhigte, wusste der neugierige Dreikäsehoch wohl selbst nicht so genau, jedenfalls hielt er für’s erste die Klappe.


    Je weiter Malleus der verschneiten Dorfgasse nach Norden folgte, desto fremder wurde ihm die Siedlung. Das einstige Dorf hatte am Fuß des bewaldeten Hanges geendet. Am Saugatter des alten Gotmar, vor einem kleinen Eibenwäldchen. Einige der Eiben standen zwar noch immer, markierten aber nicht mehr die Dorfgrenze. Auch jenseits der Bäume lugten weitere Giebel über die Schneeberge. Die Gasse knickte in einer flachen Steigung nach Osten ab. Zu den Quellen jedoch ging es geradeaus, zwischen Koben und Kate hindurch den Hang hinauf. Zielstrebig marschierte Malleus bergan. Das Wohnhaus rechts des ausgetretenen Pfades war deutlich höher gebaut und augenscheinlich neuer als die übrigen Langhäuser unten im Dorf. Zudem bestanden die Außenwände weder aus Lehm, Torfplaggen oder Grassoden, sondern aus gemauerten Steinsockeln und behauenen Stämmen, ebenso wie der Stall gegenüber. Nicht gerade praktisch für den germanischen Winter, fand Malleus, sah aber gut aus. Hinter dem Stall war auch schon wieder Schluss mit den Neuerungen. Dort ragte der obligatorische Misthaufen aus einer flach ausgehobenen Sickermulde. Ein sehniger alter Knecht schaufelte die Hinterlassenschaften des Stallviehs in die Mulde, beaufsichtig von einem hoch aufgeschossenen jungen Burschen, dem Dummheit und Arroganz schon von weitem anzusehen war.
    „Oh je. Blödmann Trautwin.“, warnte Ulf halblaut von hinten, „Der gehört schon zu den Großen.“ In der Tat, das war nicht zu übersehen. Der Knecht glotze das heran schreitende Paar kurz verwundert an und verschwand dann eiligst im Stall. Blödmann Trautwin dagegen trat zwei Schritte von dem dampfenden Haufen weg und versperrte mit geblähter Brust den Weg. „Das ist Folkward’s Grund!“ intonierte er mit glühendem Stolz im Blick. Malleus stapfte ungerührt weiter. Folkward’s Grund. Am Arsch. Das war der Weg zum Quellbecken. Seit jeher. Die Gebäude beiderseits des Pfades mochten auf Folkward’s Grund stehen, die alten Wege gehörten allen oder niemandem. Seltsame Ansichten hatten hier Einzug gehalten. Römische Ansichten.
    Lediglich ein ersticktes Ächzen wurde laut, als Trautwin von Malleus’ linker Schulter abprallte, danach war außer den schweren knirschenden Schritten des Veteranen eine Weile nichts mehr zu hören. Bis die Stille von einem erschrockenen Quieken durchschnitten wurde, das Malleus augenblicklich auf dem Absatz kehrt machen ließ. Ein völlig verdrecktes Etwas lag in der Mistmulde und versuchte verzweifelt, trotz der dicken Kleiderschicht auf die Beine zu kommen. Am Rand der Mulde hatte sich Trautwin aufgebaut, mit verschränkten Armen und einem triumphierenden Grinsen im bartlosen Gesicht, das allerdings krampfhafte Züge annahm, als er den nunmehr ausgesprochen schlecht gelaunten Malleus auf sich zu stampfen sah. „Das ist Folkward’s Grund.“, krächzte das Bürschchen noch einmal, sah aber wohl sogleich ein, dass das den nahenden Hünen einen Dreck interessierte. „Der .. der hat mir die Zunge rausgestreckt!“ suchte er sich nun schrill zu verteidigen, ohne Erfolg. Als ihn nur noch fünf Schritte vom Verderben trennten, tat er endlich das einzig Richtige, in dem er den hustenden Ulf so behutsam es ging aus der Mulde zog und auf die Beine stellte. Eine Armlänge vor dem käsebleich gewordenen Jüngling rammte Malleus seine Calcei in den harschen Schnee. „Die Mütze.“ Ganz so blöd schien der Blödmann nun auch nicht zu sein, immerhin begriff er sofort was gemeint war und watete bereitwillig in den Mist, um die tropfende Fellkappe seines Opfers herauszufischen. Ulf riss sie ihm wütend aus der Hand. „MEIN ONKEL WILL DA HOCH!“, wurde der bleiche Trautwin angequäkt, „UND WENN ER DA HOCH WILL, GEHT ER AUCH DA HOCH!“ Malleus verbiss sich ein Grinsen. So wichtig war es ihm gar nicht mehr, da hoch zu gehen. Vielleicht war es eher angeraten, sich mit dem eingesauten Bengel auf den Rückweg zu machen. Ulf schien entschieden anderer Auffassung. Mit hochgerecktem Kinn drückte er sich die schmierige Kappe auf den Kopf und watschelte voraus. „Du hättest ihn verhauen können.“ nölte Ulf leicht beleidigt, als Malleus ihn eingeholt hatte. „Du hättest ihm nicht die Zunge rausstrecken müssen.“ entgegnete Malleus dumpf. Darauf fiel dem besudelten Kerlchen nichts Geistreiches mehr ein.


    Kaum drei Dutzend Schritte hangaufwärts kamen sie an die Stelle, an der das Bachbett zu einer sanften Schleife um das Dorf herum hinaus auf die Ebene ansetzte. Nach einem weiteren Dutzend schließlich erreichten sie die breite Felsvertiefung, in der sich die trüben Rinnsale dreier Waldquellen sammelten und zum künftigen Bach vereinten. Das Quellbecken. Malleus trat andächtig näher, atmete tief ein und kniete sich auf den Fels. Schwere Düfte trieben in dünnen Wolken über die Wasserfläche, ausgewaschen aus den Eingeweiden der Erde, an die Oberfläche getragen von uralten Quellströmen, die ihrerseits einst der Quelle des Mimir entsprungen waren. Dies war ein Ort der Einkehr. Ein heiliger Ort. Ohne den stillen Spiegel zu trüben, ließ er seine Hände langsam über das Wassers gleiten. Feuchte Wärme stieg auf, netzte ihm die schwieligen Handflächen. „Jetzt weiß ich’s!“ fiepte es plötzlich hinter ihm, „Du bist ein König! Stimmt’s?“
    Malleus zog im Reflex die Hände zurück. Richtig, der Kleine war ja auch noch da, den hätte er fast vergessen. „So? Kein Bär?“ knurrte er über die Schulter. „Ach Onkel. Bären haben doch auch einen König. Du bist ein bestimmt ein großer König!“ Jetzt, da ihm Ulf wieder in’s Bewusstsein getreten war, drang auch dessen Gestank wieder zu ihm durch. „Es gibt keine Könige mehr. Hier nicht.“ erklärte er unwirsch. Und Bären auch nicht, wollte er noch hinzufügen, ließ es aber bleiben, als er in Ulf’s braun verkrustetes Gesicht blickte. So konnten sie nicht in Malvin’s Haus aufkreuzen. „Und wo sind die hin?“ fragte Ulf ungeniert weiter. Malleus blieb die Antwort schuldig, nestelte sich stattdessen das Focale vom Hals und tauchte es in’s laue Wasser. „Verflucht nochmal, Junge, du stinkst nicht nur wie ein Scheißhaufen, du siehst auch so aus. Komm mal her.“ Ulf kam. „Kopf hoch. Stillhalten.“ Es kostete Malleus einige Mühe, dem Kleinen die Jauche aus dem Gesicht zu wischen, schon weil der sich nicht eben kooperativ zeigte und immer wieder an der Mantelschließe seines Onkels herumfummelte. „Was ist das, Onkel?“ fragte er mit einem mitleidigen Blick auf Malleu’s entblößten Hals. „Eine Narbe. Stillhalten hab ich gesagt!“ Ulf formte das Gesagte lautlos mit den Lippen nach und bohrte dann weiter. „Tut dir das weh?“ Malleus tauchte das Halstuch erneut ein. „Nein.“ log er – nicht gerade überzeugend. „Wirklich nicht? Gar nicht? Nicht mal ein bisschen?“ Seufzend ließ Malleus das schmutzstarrende Focale sinken. „Naja. Doch, ein bisschen schon. Warum willst du das wissen?“ Ulfs sah traurig von ihm weg auf die Dächer des Dorfes hinab. „Weil, Tante Eldrid hat ganz viele davon.“

  • Die Sonne hatte sich bereits hinter den Wäldern verkrochen, als Malleus wieder an der Hausbuche vorbei stapfte. Auf seinen Schultern thronte oder vielmehr hing der schläfrige Ulf, notdürftig gereinigt zwar, aber immer noch ausdünstend wie ein Zuber voll Jauche. Sein Oheim roch kaum angenehmer, Ulf’s Gestank hatte sich auf dem Heimweg auch in dessen fellbesetzten Mantel geschlichen, was den Träger nötigte, sich zu fragen, warum das immer ihm passierte, und ob es künftig wohl sein Los sein sollte, nach Fäkalien müffelnd durch’s Leben zu wandeln. Am Wohnhaus angekommen setzte Malleus den gähnenden Stinker ab, und öffnete ihm die Tür. „So. Ab mit dir in’s Warme. Die Sauerei schiebst du einfach auf mich.“ Ulf machte ein paar tapsende Schritte in’s Halbdunkel, blieb dann aber abwartend stehen. „Kommst du nicht rein?“ Malleus lauschte durch den Türspalt. Es herrschte Stille im Haus. Kein Schluchzen, kein Geschrei. Trotzdem verspürte er nicht das geringste Verlangen, sein Schicksal schon wieder herauszufordern. „Später. Ich hab noch was mit deinem Vater zu bereden. Mach die Tür zu, es ist arschkalt.“ Die Tür schloss sich, ging jedoch sofort wieder auf.
    „Onkel Wunold?“
    „Was denn noch?“
    „Bleibst du jetzt bei uns?“
    „Nein, Kleiner. Tür zu!“


    Hat der Bengel keine Freunde? fragte er sich kopfschüttelnd während er entschlossen zwischen den verschneiten Rennofenkegeln zur Schmiede hinüber stampfte. Gast hin oder her, wenn sich nicht schleunigst jemand seiner offenen Fragen annahm, würde er ungemütlich werden, und darin war er richtig gut. Schließlich hatte es ihn schon genug Selbstbeherrschung gekostet, Ulf nach dessen Andeutung am Quellbecken nicht weiter auszuquetschen und sich stattdessen mit dem Jungen geduldig die ersten Muspelfunken am Abendhimmel zu betrachten. Nun aber war seine Geduld nahezu aufgebraucht. Wind im Kopf. Narben am Körper. Was kam da wohl sonst noch? Er hatte nicht vor, hier tagelang zu verweilen und somit auch nicht die Muße, sich die gewünschten Antworten aus einer tropfenden Kindernase zu zupfen.


    Diesmal riss er die Tür auf, ohne anzuklopfen. Der Lärm, die Hitze und die beißende Luft, die ihn beim Betreten der Werkstatt anfielen, nahmen ihm allerdings augenblicklich den Wind aus den Segeln. Vor der rot wabernden Esse zeichneten sich die Schattenrisse dreier breitschultriger Burschen ab, von denen zwei mit unterschiedlich schweren Hämmern auf einen funkenstiebenden Amboss einschlugen, während der dritte das Ende eine langen Zange umklammert hielt, die er langsam hin und her drehte. Es dauerte eine Weile, bis sich Malleus’ brennende Augen an das flackernde Zwielicht gewöhnt hatten, und er sowohl die dampfenden Männer unterscheiden als auch erkennen konnte, woran sie arbeiteten. Malvin, Gerwin und Birger waren dabei, aus schon vorgebogenen Eisenstäben eine schwere Gliederkette zu schmieden. Fasziniert beobachtete Malleus, wie Birger immer neue Glieder mit der Zange packte, sie kurz in die Glut steckte und dann auf den Amboss presste, wo sie zuerst von Malvin vollends in Form gehämmert und in das von einem Balkengestell herabhängende Kettenstück eingefügt wurden, um schließlich mit ein paar gewaltigen Schlägen von Gerwin geschlossen zu werden. Die Kette wurde länger und länger. Nach jedem fünften Glied musste Birger sie in einer Eisenöse, die aus dem Querbalken ragte, neu einhängen, um zu vermeiden dass sie durch ihr wachsendes Eigenwicht vom Gestell rutschte. Die hatten gut zu tun, sah Malleus ein, da blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als sich in Resten von Geduld zu üben. Noch immer unbemerkt von den schuftenden Burschen machte er ein paar Schritte in’s spärliche Licht, legte den miefenden Mantel ab und sah sich um.


    Mit dem zugigen nach zwei Seiten offenen Verschlag, in dem seine Ahnen einst ihrem kräftezehrenden Handwerk nachgegangen waren, hatte Malvin’s Werkstatt nicht mehr viel gemein. Sauber mit Lehm verputzte Wände. Ebener eingesandeter Boden. Kein qualmendes Feuerloch am Boden, sondern eine hüfthoch aus behauenem Steinen errichteten Esse, die mit einer Steinplatte abgedeckt werden konnte. Darüber ein breiter Rauchabzug. Stabile Kohlenschütten. Ein rotierendes Schleifrad mit Kurbel. Moderne Hornambosse, Montierböcke, Spannzwingen, Spalteisen, Wetzsteine, Zangen, Feilen, Hämmer und jede Menge mehr an Werkzeugen und Vorrichtungen, von denen er weder Namen noch Verwendungszweck kannte. Vor allem aber – und das war ihm als erstes aufgefallen – herrschte hier Ordnung. Kein Vergleich mit den Zuständen in der alten Schmiede, wo sein Großvater Grimmbald ständig über Gerätschaften und Gerümpel gestolpert war. Malleus war beeindruckt. Wenn auch ein mieser Bauer, schien Malvin doch ein recht brauchbarer Schmied zu sein. Endlich verhallten die Hammerschläge. Die Halbzeuge waren aufgebraucht. Malvin löste die Kette vom Haken und ließ sie in einen Wasserbottich rattern. Nun erst fiel sein überraschter Blick auf Malleus.


    „Ah, Onkel. Haben dich die Tratschweiber doch noch vergrault?“ Vergrault trifft es nicht ganz, dachte Malleus finster, aber die Richtung stimmt. „Wie man’s nimmt. Wenn du hier fertig bist, hätte ich dich gerne gesprochen.“ Malvin tauchte die Hände lächelnd in einen Wassereimer und begann, sich Gesicht und Oberkörper zu reinigen. “Fertig bin ich schon. Den Rest machen Birger und Gerwin. Wozu hat man schließlich Gesellen. Wir können es uns nach dem Essen drüben am Herdfeuer bequem machen und Großvaters Methorn kreisen lassen.“ Malleus schüttelte energisch den Kopf. „Nicht drüben. Hier. Unter vier Augen. Wenn sich das machen lässt.“ Malvin schien nicht sonderlich erstaunt über das Ansinnen seines Onkels. Mit einem Nicken zog er sich die Tunika über den nassen Kopf, hob einen bauchigen Tonkrug vom Boden auf und reichte ihm Malleus. „Natürlich. Wie du möchtest. Hier, gutes dickes Weizenbier. Mit Eschenlaub und Eichenrinde gesotten.“ Gerwin räumte die Werkzeuge weg. Birger streifte Asche und Holzkohlenreste aus der Esse. Malvin und Malleus tranken abwechselnd Bier und schauten zu. Als sie alle Arbeiten erledigt und sich abgewaschen hatten, schlurften die Gesellen müde und zweifellos hungrig zur Tür hinaus, allerdings nicht, ohne vorher die Anweisung erhalten zu haben, mehr Bier zu bringen. Nachdem die beiden verschwunden waren, setzten sich Onkel und Neffe rülpsend auf den warmen Boden am Fuß der Esse. „Nun, Onkel Wunold? Was hast du auf dem Herzen?“ Malleus nahm noch einen tiefen Schluck und gab dann den Krug weiter. „Ich will wissen, warum meine Schwester den Verstand verloren hat.“ Malvin spülte ein tiefes Seufzen hinunter. „Ich verstehe. Nun ja, Eldrid hatte kein sehr gutes Leben, bevor sie zu uns gekommen ist. Ach, was red ich da, kein sehr gutes Leben – ein verfluchtes Scheißleben hatte sie. Ich weiß gar nicht, wo ich da anfangen soll.“ „Vorn.“ knurrte Malleus. „Aber gib vorher den Krug rüber.“

  • Es ließ sich recht holperig an. Malvin’s Begabung zur strukturierten Schilderung entsprach in etwa Malleus’ Talent zur schweigenden Analyse Der Neffe schweifte ab, der Onkel fiel ihm in’s Wort. Der eine verlor den Faden, der andere die Geduld. Als Birger zwei weitere Krüge Bier ablieferte, waren beide höchst dankbar für die Ablenkung. „Du hast doch gesagt, ich soll vorn anfangen.“ maulte Malvin nach einem gierigen Zug aus dem Bierkrug. „Gut. Ja. Schon richtig.“, gab Malleus widerwillig zu, „Aber du kommst mir da mit Geschichten, die lange vor deiner Zeit passiert sind. Ihre Geburt in Mogontiacum .. der Tod unserer Mutter .. Eldrid’s Jugend unter der Vormundschaft unseres Onkels Uland .. mein Vater, der sich bloß noch um deinen Vater gekümmert hat .. bei den Nornen, Junge! Das weiß ich doch alles! Ich war dabei!“ Für eine Weile erklang nur das Gurgeln zweier schluckender Kehlen, dann wagte Malvin einen einen neuen Vorstoß. „Aber darum geht’s doch. Eigentlich hätte Großvater einen Mann für sie finden sollen, nicht euer Onkel Uland. Der hatte selber keine Kinder. Wahrscheinlich war’s ihm egal, ob Tante Eldrid einen anständigen Mann bekommt oder eine Sau. Hauptsache, ein Maul weniger zu stopfen. Wenn Großvater das selbst in die Hand genommen hätte ..“
    „Dein Großvater hatte ein Dorf aufzubauen.“, fiel ihm Malleus kurz angebunden in’s Wort. „Um sowas konnte er sich nicht auch noch kümmern. Waren andere Zeiten damals.“ Immer das gleiche mit diesen verzärtelten jungen Burschen. Die glaubten doch tatsächlich, Sicherheit und Ordnung seien vom Himmel gefallen. Ohne beherzte Männer wie Harduin wäre aus Malvin vermutlich auch nur ein stinkender Gerbergeselle geworden oder ein Lohnarbeiter in den Garnisonsfabricae, der Hufnägel für die Ala hämmerte. Dass er Herr über eine eigene Schmiede war, hatte er in allererster Linie Vater und Großvater zu verdanken. „Na schön. Weiter. Eldrid’s Ehemann war also eine Sau.“ Malvin rang sich ein verächtliches Lächeln ab. „Ist er immer noch. Der ehrenwerte Tiberius Meritus, windiger Geschäftsmann, hündischer Römerfreund und geborene Drecksau.“ Obgleich noch immer angesäuert von Malvins’ mäandernder Erzählweise, musste Malleus über den hochtrabenden Namen seines obskuren Schwagers dann doch schmunzeln. „Tiberius Meritus? Im Ernst?“ „Aber ja doch.“, grinste Malvin bitter, „Falsche Bescheidenheit kann man ihm nun wirklich nicht vorwerfen. Eigentlich heißt er Otfrid und ist unseres Blutes. Leider. Hat früher für den berüchtigten Quaestor Anteius Iulus gearbeitet. Muss sich wohl für ihn gelohnt haben, jedenfalls hat’s gereicht, um ein Anwesen bei Nida und drei alte Gebäude im Municipium zu erwerben. Eines davon direkt neben Ulands’ alter Gerberei, da wo heute der Anbau mit den Trockengestellen steht. Das Grundstück soll eine nicht unerhebliche Rolle bei der Eheanbahnung gespielt haben. Tante Eldrid scheint ja mal ein sehr hübsches Mädchen gewesen zu sein, die hatte sicher auch jede Menge anständiger Verehrer, wenn du weißt, was ich meine.“ Malleus schnaubte genervt. Sicher wusste er, was sein Neffe meinte, verstand aber absolut nicht, warum der so ein Aufhebens von der ganzen Sache machte. „Ich kann dir nicht folgen, Malvin.“, stöhnte er auf. Mittlerweile bereute er es fast schon, überhaupt gefragt zu haben. „Das ist doch alles gang und gäbe. Gut, sie war hübsch. Na und? Wenn dieser .. Meritus .. am meisten zu bieten hatte, wäre Uland ein Narr gewesen, nicht darauf einzugehen. So läuft das eben. Außerdem muss der Bursche ja was für meine Schwester übrig gehabt haben, sonst hätte er nichts für sie springen lassen. Nimm’s mir nicht übel, Junge, aber mir fehlt die Zeit für endlose Anekdoten. Eigentlich wollte ich vor Einsetzten des Tauwetters zurück in Mogontiacum sein. Tu mir den Gefallen und halt dich kurz.“ Dass ihm die Zeit fehlte, stimmte freilich nur zum Teil. Noch hatte er mehr davon als er bewältigen konnte. Langfristig betrachtet aber schmolz auch dieser scheinbar üppig bemessene Vorrat Tag für Tag weiter dahin.


    Malvin nahm die Ungeduld seines Onkels mit einem Achselzucken. „Gut. Wie du meinst. Eldrid wurde also mit diesem Drecksack vermählt, zog nach Nida, brachte binnen Jahresfrist eine Tochter zur Welt, dann noch eine und schließlich noch eine. Keine Ahnung, ob sie von Anfang an geschlagen wurde oder erst nach Geburt der dritten Tochter, jedenfalls war sie bereits gebrochen als die junge Sklavin Yara auf das Gut kam. Von Yara weiß ich das alles, Eldrid selbst spricht nicht darüber.“ Der letzte Satz verlor sich in der Tiefe des Bierkruges. Malleus blickte verwirrt zu seinem Neffen hinüber. War es das schon? Seine Schwester war von ihrem Mann geschlagen worden? Sonst nichts? „Männer prügeln ihre Weiber manchmal.“, knurrte er durch die zusammengebissenen Zähne, “Das ist zwar ehrlos, aber trotzdem nicht gerade unüblich. Wenn das schon alles sein soll, weiß ich wirklich nicht, warum sie das derart ... verändert hat. So zart besaitet hab’ ich sie nicht in Erinnerung.“ Malvin erwiderte den Blick seines Onkels. Auch in ihm schien sich nun ein dunkler Zorn entflammt zu haben. „Ach ja? Ist es auch üblich, sein Weib zur Feldarbeit zu zwingen, kaum dass sie entbunden hat? Ist es üblich, sie zur Tilgung der eigenen Schulden an den römischen Patron zu verleihen? Außerdem hab’ ich nicht gesagt, dass er sie selbst geschlagen hat, oder? Männer wie der ehrenwerte Meritus lassen schlagen. Wo ist sowas üblich? Bei den Romani?“ Das war nun tatsächlich die erhofft kompakte Information. Erwartet hatte Malleus dergleichen allerdings nicht. „Was soll das heißen? Schlagen lassen?“, hakte er voll finsterer Ahnungen nach. „Na, wie verfährt wohl so ein Domius mit widerborstigen Sklaven? Züchtigt er sie hinter verschlossenen Türen oder lässt er vor aller Augen ein Exempel an ihnen statuieren? Mal es dir selber aus.“ Das tat Malleus auch, und kam dabei zu dem Schluss, dass dies alles nicht wahr sein konnte. Haarsträubende Ammenmärchen. Bestenfalls maßlos übertriebene Ausschmückungen, zudem noch weitergetragen von einer Sklavin. Wer war diese Yara überhaupt? Wo war sie und warum nahm sein Neffe ihren offensichtlich aufgebauschten Tratsch für bare Münze? Sicher, dass Eldrid Schreckliches widerfahren sein musste, stand außer Zweifel, aber kein Mattiaker hätte sich jemals getraut, eine freie Stammestochter so zu behandeln. Mochte Malvin jener mysteriösen Sklavin auch glauben, Malleus würde die Wahrheit schon zu Tage fördern, wenn er sie in die Finger bekam. Was bei gefangenen Jazygen funktioniert hatte, konnte auch bei einer verlogenen Sklavin nicht fehl gehen. „Wo ist diese Yara?“, keuchte er gepresst, „Ich hätte da noch ein paar Fragen.“ Bevor Malvin jedoch Auskunft geben konnte, ging die Tür auf und ein sichtlich verschüchterter Birger tappte in die Werkstatt. „Äh .. ich wollte nach der Glut sehen und mein Nachtlager herrichten. Stör ich? Soll ich vielleicht später nochmal ..“ „JA!“ krähte der Schmied. „Verzieh dich!“ Birger nickte hektisch und wollte sich gerade verziehen, da ging seinem Meister auf, dass die Krüge fast leer waren. „HALT! Warte! Bring mehr Bier! Das heißt .. nein .. bring Met! Bring beides! Na los!“ Die Tür knallte zu. Die beiden Männer kippten sich schweigend den warmen Bierrest hinunter. „Der ist wohl noch nicht lange Geselle?“, fragte Malleus nach einem schallenden Rülpser. „Nai.“, griente Malvin, „Merkt man das?“

  • Als der Geselle wiederkehrte, kam er nicht allein, sondern in Begleitung der merklich geladenen Eghilt, die Malvin zwar folgsam den Metkrug überreichte, dann aber sofort dazu überging, ihm allerlei schrille Vorhaltungen an den Schädel zu werfen, bezüglich der Mengen an bereits weggesoffenem Bier im Allgemeinen und diverser körperlicher Unzulänglichkeiten eines berauschten Gemahls im Speziellen. Der Gescholtene ließ die Tirade achselzuckend über sich ergehen. Sein Onkel hörte erst gar nicht hin. Das Gekeife ging Malleus nichts an. Malvins’ Weib, Malvins’ Problem. Da hielt er sich lieber an Birger, der ihm auf sein gebieterisches Zuwinken hin, bereitwillig die Bierkrüge zwischen die weit gespreizten Beine stellte und sich anschließend eilig aus dem Staub machte. Den Gesellen hatte der Schmied augenscheinlich besser gezogen als seine Gattin. Die erging sich mittlerweile in spitzfindigen Sticheleien, die angesichts der ausbleibenden Reaktion ihres Mannes zunehmend gehässiger wurden. Malleus schüttete sich genüsslich das schäumende Nass in den Schlund, wieder einmal froh darüber, sich derart lästigen Anhang erspart zu haben. Als Eghilt endlich die Puste ausging, ließ sich Malvin dann doch noch zu einem Kommentar herab. Mit sanftem Tonfall wies er sein Weib drauf hin, dass sie vergessen hatte, das Trinkhorn mitzubringen. Eghilt, die all ihre Giftpfeile offenbar bereits verschossen hatte, erwiderte nichts und stampfte stattdessen schnaubend davon. Gut gemacht, Neffe, dachte Malleus zufrieden, junge Gäule müssen sich müde traben, dann ist am Abend auch Ruhe im Stall.


    Auf Malvins’ Miene machte sich ein stolzes Lächeln breit. „Ein Prachtweib, oder?“ Malleus nickte anerkennend. „Kann man so sagen. Aber das Trinkhorn wird sie uns wohl nicht holen.“ Malvin’s Kichern ging im Met unter. „Nei .. ist nicht anzunehmen .. geht aber auch ohne.“ Dass es auch ohne ging, war nicht zu überhören. Während sein Neffe genießerisch vor sich hin gluckerte, kam Malleus wieder der Sinn ihrer Unterhaltung in’s Gedächtnis. „Was ist nun mit dieser Yara? Und was macht Eldrid überhaupt bei euch?“, fragte er mit schwerer werdender Zunge und streckte die Hand nach dem Metkrug aus. „He! Kann ich das vielleicht auch mal kosten? Bin schließlich dein Gast.“ Malvins’ Ohren nahmen einen leuchtenden Rotton an. „Oh .. entschuldige, Onkel. Natürlich. Bitte.“ Der Met rann durch Malleus’ Kehle wie flüssiger Sonnenschein. Warm. Süß. Golden. Das hatte er lange nicht mehr getrunken. Mit diesem Labsal konnte weder Bier noch das römische Traubengesöff auch nur annähernd mithalten. Fast hätte ihn das Entzücken wieder vom Thema abgebracht. Jetzt galt es, sich zusammen zu reißen, sonst brauchte er sich vom heutigen Abend keine Antworten mehr zu erhoffen. „Täusch’ ich mich, oder hab’ ich mich da grade was fragen hören?“, gemahnte er seinen Neffen. Der hatte inzwischen einen der Bierkrüge an sich genommen und räusperte sich nun verlegen.„Ach ja. Richtig. Vor .. lass mich nachrechnen .. neun Jahre müsste das her sein .. also, vor neun Jahren, an einem nebligen Abend im Gilbhart sind Eldrid und Yara hier plötzlich vor der Tür gestanden. Abgerissen, ausgehungert, zerschunden, ein ganz schön erbärmlicher Anblick, das kann ich dir versichern. Mutter hat die beiden für Mare gehalten und wollte sie fortjagen, aber Vater hat sie reingelassen. Obwohl er seine Schwester zuerst gar nicht erkannt hat. Kannst du dir das vorstellen?“ Malleus nickte. Ja, das konnte er. War es ihm doch selbst nicht anders ergangen, als er Eldrid das erste mal wiedergesehen hatte. Eine warme Welle der Sympathie für seinen toten Bruder Heimar überkam ihn. „Vor neun Jahren. So spät erst.“, sagte er halblaut und mehr zu sich selbst. Wenn er die Daten noch richtig im Kopf hatte, musste Eldrid heute zweiundvierzig Jahre alt sein, war also mit dreiunddreissig in Heimar’s Haus gekommen. Warum erst so spät? Gesetzt den Fall, alles was Malvin ihm bislang erzählt hatte, entsprach der Wahrheit, warum war sie dann nicht schon eher fortgelaufen? Warum hatte sie es mehr als eineinhalb Jahrzehnte bei ihrem Schwein von Ehemann ausgehalten? Dafür konnte es eigentlich nur einen Grund geben. „Was ist mit den Mädchen?“


    Mit einem schielenden Blick auf den Metkrug wischte sich Malvin den Bierschaum vom Mund. Verständlich, fand Malleus, und gab den Krug zurück. „Keine Ahnung. Bestimmt alle längst verheiratet. Sie sind nicht in Nida aufgewachsen. Meritus hat sie schon früh in die Obhut seiner Sippe gegeben, und die ist über das ganze Gau am unteren Moenus verstreut. Tante Eldrid hat er den Aufenthaltsort ihrer Töchter verschwiegen. Vermutlich wollte er sie mit der Aussicht auf ein Wiedersehen mit den Mädchen zu Wohlverhalten animieren.“ Könnte hinkommen, dachte Malleus. So niederträchtig es klang, so logisch schien es gleichzeitig. „Gut möglich. Trotzdem kapier ich nicht, warum sie dem Arschloch nicht schon vorher davongelaufen ist.“ Malvin lachte bitter in den Metkrug. „Hat sie versucht. Aber so ganz ohne jede Unterstützung? Wo hätte sie schon hin sollen? Vier Jahre bevor sie zu uns kam, musste sie ihren sauberen Gemahl zu einem gesellschaftlichen Termin in’s Municipium begleiten. Rat mal, unter wessen Dach die Eheleute da unterkommen sind.“ Malleus brauchte gar nicht erst zu raten. „Sebald.“ Bestätigendes Nicken vonseiten des Neffen. „Hat ihn bekniet, sie bei sich zu behalten, ihm sicher auch ihre Striemen gezeigt, alles vergeblich. Mit Onkel Sebald hat sie auf’s falsche Pferd gesetzt. Der war von den Denarii seines Schwagers weit mehr beeindruckt als vom Ungemach seiner Schwester. Ihren Geburtsort konnte sie als Zuflucht vergessen. Danach erst ist sie auf den Plan verfallen, es bei ihrem zweiten Bruder zu versuchen, der dritte weilte ja in weiter Ferne. Wo genau ist er damals eigentlich gewesen?“ Der Unterton des letzten Satzes passte Malleus ganz und gar nicht. Entweder, sein Neffe vertrug den eigenen Met nicht oder er machte ihn angriffslustig. „Campona. Pannonia.“, gab er zähneknirschend Auskunft. Worauf zielte Malvin mit dieser Spitze ab? Sollte nun ausgerechnet ihm, dem pflichtbewussten alten Soldaten, die Schuld an allem zugeschustert werden? „Komm mir jetzt bloß nicht so, Junge.“, setzte er ruppig nach, „Jeder Mann hat seinen Platz. Der deines Vaters war hier. Meiner nicht.“ Sofort wurde Malvin kleinlaut. „Schon gut .. ich mein ja nur .. ein Brocken wie du .. du hättest dir von Meridius keine Angst einjagen lassen, oder? Du hättest Eldrid doch sicher geholfen?“ Hätte er? Malleus runzelte nachdenklich die Stirn. Wahrscheinlich. Genau konnte er das nicht sagen. „Die Frage erübrigt sich. Ich war nicht da. Fertig.“


    Geraume Zeit war nichts mehr zu hören außer dem Knacken der abkühlenden Esse und dem dumpfen Schwappen sich neigender Krüge. Der Onkel stierte sinnierend zwischen die rußschwarzen Dachbalken. Der Neffe glotzte belämmert zu Boden. Dass Malvin ihn nicht anlog, sondern wirklich glaubte, was er erzählte, war Malleus schon klar. Dennoch sträubte er sich noch immer ein wenig gegen die Vorstellung, ein hergelaufener neureicher Mattiaker könne tatsächlich die Stirn haben, die Ehre seiner Schwester und damit auch die der Sippe derart in den Dreck zu stampfen, mehr noch, sich auf ihr zu erleichtern. Bei dem Gedanken an Erleichterung gewahrte er wieder seine prall gefüllte Blase. „Scheiße. Mir platzt gleich das Euter.“, stöhnte er träge gegen die Decke, „Aber draußen fällt einem jetzt sicher der Stängel ab.“ Malvin kicherte debil. „Fühl dich ganz wie zuhause, Onkel Wunold. Der Boden wird von Birger täglich neu eingestreut.“ Das hättest du mir nicht anbieten sollen, dachte Malleus amüsiert, zog sich umständlich am Mauerrand der Esse hoch und begann, auszupacken.

  • Nachdem Malleus sich aus gebotener Höflichkeit dem Gastgeber gegenüber in die Glut anstatt auf den Boden erleichtert hatte, half er seinem Neffen auf die Beine, dem Bier und Met nun ebenfalls bis an die Backenzähne standen. Malvin bereitete das Pinkeln in die zischende Glut augenscheinlich ein infantiles Vergnügen. Gefährlich schwankend wedelte er in den aufsteigenden Dampfschwaden herum und wäre wohl vornüber gekippt, hätte sein Onkel in nicht mit einem entschlossenen Griff in’s Genick stabilisiert. „Poooh! Sieh doch diese Urgewalt!“, rief er entzückt aus, während er seinen endlos scheinenden Strahl über die ganze Esse gleiten ließ. „Es floss ein mächtiges Wasser aus einer Eisspalte Niffelheims .. und ergoss sich in den Schlund .. so müssen die Welten entstanden sein!“ Der war ziemlich durch, befand Malleus schmunzelnd, wenn er noch ein paar verwertbare Informationen aus seinem Neffen herausholen wollte, musste er sich ranhalten. „Zu Eis erstarrt und wieder geschmolzen von Muspelheims sengenden Funken ..“ intonierte Malvin begeistert weiter. Malleus klopfte dem enthusiastischen Weltenschöpfer gutmütig auf die Schulter. „Ich bin schwer beeindruckt, Junge. Aber hör mal .. bevor du dir das Hirn vollends raus pisst .. ich hätte da schon noch ein paar kleine Fragen.“ Malvin zog einen Flunsch, der auf dem Gesicht eines ausgewachsenen stämmigen Schmiedes etwas deplatziert anmutete. „Och nei, Onkel Wunold .. könn’ wir nich langsam mal zum gemütlichen Teil übergehn’ .. guck doch .. all die schönen Getränke.“ Schon richtig, es harrten noch einige Krüge der Leerung, Genau da lag das Problem. „Machen wir.“, versprach Malleus lächelnd, vergewisserte sich, dass Malvin’s Erfurcht gebietender Urquell verebbt war, und drückte seinen Neffen dann sanft aber bestimmt wieder neben sich auf den Boden. „Na schön. Was magst du denn noch alles wissen?“, fragte Malvin resigniert.


    „Dieser Misthaufen .. Meritus .. hat der sich das gefallen lassen? Hat er nie nach Weib und Sklavin gesucht?“
    „Doch, klar hat er. Ist hier gewesen .. gleich im nächsten Frühjahr .. mit nem käsigen Magistratus und ner halben Turma Aufklärer. Hat halt gute Beziehungen zu den Romani .. der Arsch.“ Das war es auch schon. Malvin ging daran, sich wieder nachzufüllen und Malleus wurde klar, dass es bald mühsam werden würde. „Und weiter?“, bohrte er nach, „Jetzt komm schon, Malvin.“
    „Na, sein Weib wollte er mitnehmen .. und Yara natürlich auch .. hat ja ihm gehört .. also Yara mein ich .. Tante Eldrid nicht. Deswegen hatte er auch kein .. Dings .. wie heißt das noch gleich .. keine rechtliche Handhabe, um Eldrid zurück zu verlangen .. hat der Magistratus jedenfalls so gesagt .. bei der Sklavin hat das anders ausgesehn’, die war sein Eigentum.“ Na also, ging doch, wenn man dran blieb. Nach dieser – gemessen an den Umständen – rhetorischen Meisterleistung ließ Malleus den durstigen Schmied erst einmal in Ruhe trinken. Die Frage, ob der Bericht seines Neffen wahr war oder nicht, beschäftigte ihn nun nicht mehr. Wesen und Erscheinungsbild seiner Schwester sprachen dafür, ebenso das, was der kleine Ulf ihm erzählt hatte. Er spürte, dass es stimmte, so haarstäubend es sich auch ausnahm. „Dann weiß ich ja Bescheid.“, stellte er trocken fest. „Und die Sklavin hat er natürlich mitgenommen.“
    Malvin schüttelte energisch den Kopf. „Nei. Hat er nicht. Die war schon tot. Hat die Strapazen der Flucht nicht überlebt.“ Malleus stutzte. Da konnte etwas nicht ganz stimmen. „Moment mal .. du hast doch gesagt, sie hätte dir alles erzählt .. wann soll sie das ..“
    „Yara ist tot!“, schnitt ihm Malvin überraschend brüsk das Wort ab, bereute den harschen Tonfall jedoch sogleich und setzte zu einer Erklärung an. „Es ist so, Onkel .. an dieser Version rühren wir normalerweise nicht. .. weil .. entlaufene Sklaven zu verstecken kann Leute wie uns .. ganz schön in die Scheiße reiten.“ Dass dem so war, wusste Malleus nur all zu gut. Er hatte in Pannonia selbst einige Male an entsprechenden Strafaktionen teilgenommen. „Verstehe.“ seufzte er, „Yara ist tot."
    „Haargenau.", bestätigte Malvin nickend. „Wenn du unbedingt noch mehr wissen willst .. oben am Hang .. auf dem Anwesen des Dorfältesten .. da lebt ne dunkelhaarige Magd. Barsine. Die könntest du zur Not auch noch ausfragen .. bloß .. wär’ für alle besser, die Vergangenheit ruhn’ zu lassen.“ Malleus ließ ein zustimmendes Grunzen vernehmen. Weise gesprochen, wenn auch ziemlich schleppend. Vermutlich war das wirklich besser. Nur weigerte sich manches Vergangene standhaft dagegen, zu ruhen. Ändern freilich ließ es sich nicht mehr. „Kann ich irgendwas für Eldrid tun? Oder für euch? Ich meine .. reich bin ich in all den Jahren zwar nicht geworden, aber vielleicht ..“
    „Was? Vergisses!“, lallte Malvin plötzlich empört. Da hatte Malleus anscheinend einen wunden Punkt tangiert. „Ich kann meine Familie selbst ernährn’ .. wir komm’ zurecht! Von mir aus kanns du gern auch noch dableibn’ kommt nich mehr drauf an .. wo’s für sieben langt, langt’s auch für acht!“ Malleus dachte kurz über die heilsame Wirkung einer saftigen Ohrfeige nach, entschloss sich dann aber dagegen. Genau genommen war er es gewesen, der seinen Neffen abgefüllt oder ihn zumindest indirekt dazu animiert hatte, sich selbst abzufüllen. So gesehen musste er nun auch mit den Folgen klar kommen. „So war das nicht gemeint. Dachte nur, wenn ich von Nutzen sein könnte ..“
    „Wenn du dich nützlich machn’ willst, geh nach Nida! Reiß deinem Schwager die Därme raus und brenn seine Hütte nieder! Ich bin bloß n Schmied .. du bis doch der Krieger! Oder nich?“
    „Ja, genau.“, stöhnte Malleus müde auf. „Ganz bestimmt. Der glorreiche Heimkehrer findet die Sippenehre geschändet und begibt sich rachedürstend auf einen letzten gewaltigen Heerzug, um ein für allemal das Böse aus der Welt zu fegen. Genau so hab’ ich mir meinen Ruhestand immer vorgestellt. Dir hat man als Kind zu viele Heldensagen in die Rübe gestopft. Seh ich vielleicht aus wie Vidar der Wolfsbezwinger?“ Malvins’ aufgebrachtes Schnauben wich albernem Gekicher. „Jetzt wo du’s sagst .. find’ ich schon .. irgendwie .. aber auch bisschen wie der Fenris selber.“ Wohl eher Letzteres, dachte Malleus grinsend und hob den Krug. „Also schön, Junge. Genug davon. Wenden wir uns lieber erfreulicheren Dingen zu. Heilir Æsir!“

  • Irgendwann im Verlauf des bereits fortgeschrittenen nächsten Vormittages wurde Malleus von ohrenbetäubendem Lärm aus wirren Träumen gerissen und fand sich erneut in einer beißenden Pfütze liegend. Wieder Urin, und – wie er nach einem ersten verschwiemelten Blick feststellen konnte – wieder nicht sein eigener. Das Rinnsal entsprang vielmehr unter dem schlaffen Körper des schnarchenden Malvin, der sich im Schlaf an seinen Onkel geschmiegt hatte wie ein Milchlamm an’s Muttertier. Unter heiseren Flüchen wälzte Malleus den Neffen von seiner Seite und versuchte sich erst einmal zu orientieren. Hinter ihm prasselte die Esse, über ihm hing dicker Qualm unter den Deckenbalken, drei Schritte neben ihm dengelten Birger und Gerwin wie die Irren auf ein dampfendes Eisenblech ein, direkt vor ihm stand ein sichtlich ausgeschlafener Ulf und glotzte ihn neugierig an. Dass der Junge seinen Vater in diesem Zustand sehen musste, war Malleus gar nicht recht. Andererseits war es nie zu früh, sich mit den Gastbräuchen der Sippe und deren Auswirkungen vertraut zu machen. Malleus versuchte sich an einem heiteren Lächeln, bekam aber nur eine schmerzverzerrte Grimasse zustande. Konnten diese wildgewordenen Vollidioten nicht mal eine Pause einlegen? Schon aus Rücksicht auf ihren siechen Meister und Hausherren?
    „Oh oh ..“, kam es nur mäßig besorgt aus dem erwartungsvollen Gesicht des Kleinen. „Es geht zu Ende. Kann ich jetzt dein Pferd haben?“ Malleus ließ Ulfs’ Nachfrage unkommentiert und versuchte stattdessen, seinen Neffen wachzurütteln. „He! Malvin! Komm mal zu dir, Junge!“ Ulf beugte sich forschend über seinen besinnungslosen Vater. „Papa geht’s gut.“, gab er mit kundiger Miene Auskunft, „Der ist bloß besoffen.“ Was für ein findiger kleiner Scheißer, dachte sich Malleus, während er ächzend auf die Beine kam. Als wäre er mit seinem Brummschädel nicht schon genug gestraft gewesen, jagten ihm plötzlich pulsierende Schmerzen durch’s rechte Bein. Auch das noch. Neuschnee kündigte sich an. Das passte ihm nun gar nicht in den Kram. „IST JA GUT JETZT! WIR HABEN’S KAPIERT!“, brüllte er die verbissen lärmenden Gesellen an, obgleich er ihre miese Laune durchaus nachvollziehen konnte. Der Boden vor der Esse war übersät mit leeren Krügen beziehungsweise den zersplitterten Überresten leerer Krüge, zweifellos hatten er und sein Neffe im Laufe der Nacht einen Großteil des Getränkevorrats vernichtet und die Schmiedegesellen dazu noch von ihrer verdienten Nachtruhe abgehalten. Birger und Gerwin bedachten ihn mit zwar mit grimmigen Blicken, warfen dann aber das schon löchrig gehämmerte Blech scheppernd beiseite und machten sich daran, in den Rohlingen herumzuwühlen. Ulf dagegen rührte sich nicht von der Stelle, stand mit verschränkten Armen da und ließ seinen Großonkel nicht aus den Augen. Richtig, der vorwitzige Zwerg wartete auf sein Pferd. Da konnte er lange warten. Knurrend packte Malleus den noch immer schnarchenden Malvin am Bein und zog ihn über den uringetränkten Boden auf die Tür zu. Draußen rammte er den Schädel seines Neffen in eine Schneewehe, wartete, bis Malvin zu husten begann und stopfte ihm dann ein paar Hände voll Schnee unter die Tunika. Prusten. Keuchen. Gutturales Geschrei. Malvin kam zu sich. Malleus war’s zufrieden. „Willkommen unter den Lebenden.“, begrüßte er seinen japsenden Neffen. „Wenn du wieder zu Atem gekommen bist, gehst du da rein und tust wenigstens so, als wärst du nüchtern. Wer saufen kann, kann auch arbeiten.“ Dann ließ er vom stöhnenden Schmied ab und wandte sich dessen heran tapsendem Söhnchen zu. „Am Besten, du bringst ihm bisschen was zu essen, Kleiner.“ Ulf schüttelte streng den Kopf. „Mama sagt, er kriegt heut nix.“ Weiber, dachte Malleus amüsiert, und musste zugleich bekümmert feststellen, dass bereits die ersten Flocken aus den dunkelgrauen Wolken rieselten. Mist. Wenn er sich jetzt nicht sputete, würde er vielleicht noch tagelang hier festsitzen.
    Aber alle Eile nützte nichts mehr. Binnen einer halben Hora, noch während sich Malleus im Wohnhaus etwas schuldbewusst von den giftig starrenden Weibern verabschiedete, tat sich draußen der Himmel auf und warf einen flimmernden weißen Vorhang über das Land, hinter dem man kaum den Wipfel der Hausbuche ausmachen konnte. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich dreinzufinden und die Rückreise zu verschieben.


    ***


    Vier Tage lang schneite es fast ununterbrochen. Die ersten beiden Tage verbrachte Malleus damit, sich auf allerlei mehr oder minder sinnvolle Tätigkeiten zu stürzen. Auch um sich nützlich zu machen, aber in erster Linie, um seiner Schwester aus dem Weg zu gehen. Er schaufelte Schnee, fütterte das Vieh, holte Wasser, brachte Malvin’s Werkzeuge bei dem Versuch völlig durcheinander, sie zu ordnen, ging sich selbst und den Gesellen gehörig auf die Nerven und verbrachte mit seinem reumütigen Neffen zwei hungrige Nächte in der rauchigen Schmiede. Im Morgengrauen des dritten Tages erschienen Eghilt kopfschüttelnd in der Werkstatt und forderte die beiden auf, die blödsinnigen Albernheiten einzustellen und sich gefälligst zu Tisch zu begeben, um ihr Mahl im Kreise der Familie einzunehmen, wie es sich für erwachsene Männer gehörte.
    Von da an entwickelte sich die Stimmung in Malvin’s Haushalt zunehmend positiv. Eghilt erwies sich in der Tat als umsichtiges und im Grunde äußerst gastfreundliches Prachtweib. Auch Blidgard mühte sich sehr um das Wohl ihres Schwagers, erzählte ihm eine Menge von dessen Bruder und interessierte sich brennend dafür, wie ihr verstorbener Gatte als Kind gewesen war. Was Malleus aber von allem das wichtigste war: Er konnte sich mit seiner Schwester Eldrid unterhalten, freilich nur mit Bedacht und unter Vermeidung gewisser Themen, aber über Unverfängliches ließ es sich sogar überraschend entspannt mit ihr reden. Ulf fing zwar immer wieder von Malleus’ hohem Alter an, und der unverantwortlichen Nachlässigkeit, noch nicht über den späteren Verbleib seines Reittiers entschieden zu haben, war aber alles in allem ein aufgeweckter und liebenswerter kleiner Quälgeist. Sogar die Gesellen zeigten sich ausgesprochen zugänglich, nachdem sie herausgefunden hatten, dass trotz allem noch ein ausreichender Rest an Bier übrig geblieben war, um ihnen den anstrengenden Alltag zu versüßen. Als der Schneefall nachließ, um am fünften Tag schließlich vollends aufzuhören, begann Malleus seiner Abreise mit leisem Bedauern entgegen zu sehen. Seit den ersten Wochen auf dem octavischen Gut bei Ostia hatte er sich nicht mehr so wohl gefühlt. Einfach da zu bleiben, kam indes nicht in Frage. Noch nicht. Eines Tages vielleicht. Wenn alles erledigt war, was er sich in den vergangenen grüblerischen Nächten vorgenommen hatte. Am Morgen des sechsten Tages, bei strahlendem Sonnenschein und hartgefrorenem Schnee, nahm er mit ein paar unbeholfenen Worten Abschied und beeilte sich, Procella auf die Dorfstraße zu führen. Ulf watschelte ihnen noch eine Weile nach, blieb am Dorfende aber schnaufend stehen und schimpfte wie ein Rohrspatz. Malleus winkte dem Kleinen noch einmal zu, stieg dann in den Sattel und trieb Procella zu einem langsamen vorsichtigen Trab an. „Also dann, Mädchen. Funkan vermisst dich sicher schon.“

  • Der Rückweg gestaltete sich noch mühsamer als der Hinweg. So lange es am Waldrand entlang nach Süden gegangen war, hatte Malleus Procella noch problemlos über die feste Schneedecke lenken können, nun aber, als sie in westlicher Richtung auf das freie Land hinaus kamen, war damit Schluss. Hier waren die lockeren weißen Wogen noch immer in Bewegung. Aufgewühlt von eisigem Ostwind wirbelte der Neuschnee in dichten meilenlangen Fahnen über Höhen und Mulden. Zwischen den dahinjagenden Wolken blitzte die Wintersonne herab und hüllte die kahle Landschaft in blendendes Flackern. Unter beruhigendem Zureden zog Malleus die Stute am Zügel hinter sich her, stampfte verbissen durch kniehohe Verwehungen auf eine Hügelkuppe hinauf, und besah sich dann den ganzen Schlamassel mit zusammengekniffenen Augen. Vom Quellbach war nicht einmal eine Rinne übrig geblieben, der gurgelte nun unter einem trügerischen Schneedach auf den Rhenus zu. Der schmale Karrenpfad, den man vor sechs Tagen zumindest noch hatte erahnen können, war ebenfalls verschwunden. Einzig die wilden Hecken ragten noch als unförmige Wülste über die flimmernde Ödnis. „Scheiße.“, fasste Malleus seine Einschätzung der Lage knapp zusammen. Procella stieß ein zustimmendes Schnauben aus. Das war ja schon mal was, man war sich einig. Anders ließ sich diese Schneewüste auch nicht bewältigen. Um an den Fluss zu kommen blieben im Grunde nur zwei Möglichkeiten: Entweder stur querfeldein nach Westen, durch tiefe Pulverflächen und stechende Wirbel oder an der windabgewandten Seite der Hecken entlang, im Zickzack von Buschreihe zu Buschreihe. Malleus entschied sich für Letzteres.


    Trotz des schmalen Streifens harten Altschnees, den die Windböen hinter den Hecken ausgespart hatten, ging es nur quälend langsam voran. Immer wieder mussten tückisch rieselnde Schneefelder durchquert werden, um die nächsten Strauchreihen zu erreichen. Dennoch hatte sich Malleus’s Instinkt wieder einmal als verlässlich erweisen. Ein zeitraubender Umweg war dies gewiss, aber er ermöglichte Mann und Pferd immerhin regelmäßige Atempausen im Windschatten. Weit zeitraubender wäre es letztlich gewesen, irgendwo inmitten des endlosen Tiefschnees stecken zu bleiben, völlig entkräftet und von den aufgewirbelten Kristallen der Sicht beraubt. Stunde um Stunde kämpften sie sich von einem Gesträuch zum nächsten. Obwohl Malleus sich und die Stute so sparsam wie möglich bediente, wurde der körperwarme Wasserschlauch, den er unter der Kleidung trug, zusehends schlaffer. In der Ferne waren zwar schon die kümmerlichen Reste der einst dichten Auwälder auszumachen, aber diese Aussicht allein brachte sie auch nicht schneller vorwärts. Es bedurfte noch weiteren zwei Stunden zähen Wühlens, bis der Rhenus schließlich erreicht war. Ihr weitschweifender Umweg hatte sie allerdings ein beträchtliches Stück flussaufwärts von Mogontiacum an den Fluss geführt. Um wieder zur Brücke zu gelangen, mussten sie erst einmal dem kaum passierbaren Weg nach Norden folgen. Hier war auch für das schmälste Fuhrwerk kein Durchkommen mehr. Wie tot lag der Ufersaum vor ihnen. Kein lebendes Wesen weit und breit. Nicht einmal ein einsamer Fuchs ließ sich blicken oder eine hungrige Krähe, von Reisenden ganz zu schweigen.


    Endlich an der Rhenusbrücke angelangt, stellte Malleus verwundert fest, dass nicht einmal mehr das Wachhaus am Ostzugang besetzt war. Vermutlich hatten sich die Wachen den Pioniereinheiten angeschlossen, die sich verzweifelt mühten, den Matsch über die Brüstung in den Fluss zu schaufeln. Auf seinem Weg über die Brücke konnte er erkennen, dass die erneuten Schneefälle auch im Hafen deutliche Spuren hinterlassen hatten. Von zwei Lastkähnen ragten nur noch die oberen Bordwände über den Wasserspiegel, zu Grund gedrückt von gefrorenen Schneemassen. Üblicherweise machte er sich ja ganz gerne mal darüber lustig, welches Gewese die Romani um den germanischen Winter zu machen pflegten, aber derartiges hatte auch er seit seiner Kindheit nicht mehr erlebt. Nicht gerade das beste Wetter für seinen anstehenden Umzug, aber was sein musste, musste sein. „Tapferes Mädchen.“, hauchte er Procella lächelnd in’s Ohr. „Gleich haben wir’s geschafft.“ Dann stieg er in den Sattel und trabte auf die ausgesprochen dämlich dreinschauenden Torwachen zu, als käme er gerade von einem lockeren Morgenausritt. „Na, Kameraden. Frisch heute, was?“

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